Jurist, Teilnehmer an der Ungarischen Revolution von 1956, Pressesprecher von Imre Nagy, Gründungsmitglied des Komitees für Historische Gerechtigkeit, Mitgründer des Netzes Freier Initiativen.

Miklós Vásárhelyi wurde 1917 in Fiume (Rijeka) geboren, wo sein Vater Direktor der Englisch-Ungarischen Bank war. Dort absolvierte er auch die Grundschule. Als seine Eltern es 1929 ablehnten, die italienische Staatsbürgerschaft anzunehmen, kehrte die Familie nach Ungarn zurück. Das Abitur legte Vásárhelyi 1936 am Piaristen-Gymnasium in Debrecen ab. Die folgenden zwei Jahre verbrachte er in Rom, wo er Politikwissenschaften studierte, jedoch aus politischen Gründen nach Ungarn zurückkehrte und an der Universität Debrecen ein Jura-Studium absolvierte. Unter dem Einfluss von Freunden begann er sich in der Politik zu engagieren, unter anderem in der Märzfront. Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939 trat er der kommunistischen Partei bei, blieb jedoch auf Anweisung der Parteiführung bis 1944 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Um der Einberufung zu entgehen, arbeitete er ab 1942 in einer Rüstungsfabrik. Nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen am 19. März 1944 beteiligte er sich am bewaffneten antifaschistischen Widerstandskampf. Im Januar 1945 begann Vásárhelyi als Journalist zu arbeiten, er gehörte zum Mitarbeiterstab der ersten ungarischen Nachkriegszeitung „Szabadság“ (Freiheit), später wurde er Redakteur und Korrespondent der Zeitung „Szabad Nép“ (Freies Volk). Als Vertreter dieser Zeitung war er bei den Pariser Friedensverhandlungen dabei und nahm auch am Parteitag der Italienischen Kommunistischen Partei teil. Bei dieser Gelegenheit lernte er die führenden ungarischen Kommunisten László Rajk, Ernő Gerő und Mátyás Rákosi kennen. Er befürwortete deren Politik aus vollster Überzeugung und glaubte an die von der Partei verkündete Ideologie. Trotz dieser Überzeugungen verlor er jedoch 1949 seine Position als Redakteur des Parteiorgans. In den Jahren stalinistischer Verfolgungen 1951 und 1952 war er zunächst für eine Zeitschrift tätig, musste sich dann aber mit einer Arbeit als Bibliothekar zufriedengeben. Er kam im Gegensatz zu vielen anderen Kommunisten nicht ins Gefängnis. Das Schicksal vieler seiner Freunde, die wie er Mitglieder der kommunistischen Partei waren, aber Repressalien ausgesetzt waren, erschütterte jedoch den Glauben Vásárhelyis an die Idee des Kommunismus. Er revidierte vorherige Überzeugungen und schloss sich dem Programm von Imre Nagy an. 1955 initiierte er ein Memorandum, in dem die Liberalisierung der Kulturpolitik gefordert wurde. Wegen seiner Teilnahme an dieser Aktion wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Erst nach dem Abtritt von Rákosi nahm ihn die Partei im Herbst 1956 wieder auf. Zu jener Zeit forderten er und seine Mitstreiter – unter dem Eindruck der Ereignisse in Polen (*Juni 1956, Oktober 1956) – bereits Pluralismus und volle Demokratie.

Während der Ungarischen Revolution von 1956 wurde er Berater von Imre Nagy und war ab November 1956 Pressesprecher der Regierung. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen am 4. November 1956 versteckte er sich in der Wohnung des Militärattachés Jugoslawiens. Er flüchtete sich dann in das Gebäude der jugoslawischen Botschaft, wo sich auch seine Frau, seine Kinder sowie Imre Nagy und die anderen Regierungsmitglieder aufhielten. Von dort wurde er nach Rumänien deportiert. Am 10. April 1957 wurde er verhaftet und kam in das Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes in der Budapester Fő utca. Im Juni 1958 wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt – wegen „des Versuchs des Sturzes der demokratischen Ordnung“. 1960 kam er im Rahmen einer Amnestie auf freien Fuß. Nach der Haftzeit fand er keine Arbeit und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen. 1964–72 war er für die Beschaffungsabteilung einer Baugenossenschaft tätig.


Anfang der 70er Jahre konnte er in seinen Beruf zurückkehren und arbeitete als Historiker am Literarischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie als Dramaturg bei der Filmproduktionsgesellschaft Mafilm.

Vásárhelyis politisches und bürgerrechtliches Engagement begann im Jahre 1979 wieder. Damals unterzeichnete er eine Solidaritätserklärung für die Unterstützer der Charta 77 in der Tschechoslowakei und hielt eine Grabrede für Gábor Tánczos, einen Teilnehmer der Ungarischen Revolution von 1956. 1982 nahm er an einer illegalen Konferenz teil, die der Geschichte der Revolution von 1956 gewidmet war.

Ab den frühen 80er Jahren begann er wissenschaftlich zu publizieren. 1983/84 hielt er sich in den USA auf. 1984 wurde er Beauftragter von George Soros im Kuratorium der Soros-Stiftung und in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (er hatte diese Funktion bis 1989 inne). Dank seiner Position hatte er die Möglichkeit, die ungarische Opposition bestmöglich zu unterstützen. Als seine oberste Aufgabe betrachtete er es, die wahre Geschichte der Ungarischen Revolution von 1956 sowie die Repressalien bekannt zu machen, unter denen die Teilnehmer der Revolution zu leiden hatten. Vásárhelyi nahm an allen Aktionen und Veranstaltungen teil, die die Erinnerung an die Revolution zum Inhalt hatten. 1985–87 gab er dem im Entstehen begriffenen Archiv für Oral History mehrere Interviews, 1986 beteiligte er sich aktiv an der Organisation und Vorbereitung einer Konferenz aus Anlass des 30. Jahrestages der Revolution und sprach er auf der Beerdigung von Ferenc Donáth. Im Mai 1988 gehörte er zu den Gründern des Komitees für Historische Gerechtigkeit (Történelmi Igazságtétel Bizottság; TIB), dessen Vorsitz er bis 1992 führte. Im Juni 1988 erteilte er der Zeitschrift „Beszélő“ (Sprecher) zum ersten Mal ein Interview. 1989 war er einer der Organisatoren der symbolischen Begräbnisfeierlichkeiten für Imre Nagy.

1985 nahm Vásárhelyi an dem oppositionellen Treffen in Monor teil, wirkte am Entstehen des Netzes Freier Initiativen und des Bundes Freier Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége; SZDSZ) mit. Nach dem Ende des Kommunismus war er 1989–94 Mitglied des Landesrates der Partei, 1990–94 Parlamentsabgeordneter und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des ungarischen Parlaments. Seit 1989 war er außerdem Kuratoriumsvorsitzender der George-Soros-Stiftung. Miklós Vásárhelyi starb 2001 in Budapest.

Fanny Havas
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 06/15