Russland

Wiktor Kriwulin

Wiktor Kriwulin, 1944–2001

Viktor Borisovič Krivulin

Виктор Борисович Кривулин

Dichter, Philologe und einer der führenden Persönlichkeiten der unabhängigen Kultur Leningrads. Gründer und Redakteur illegaler Zeitschriften genauso wie Gründer informeller literarischer Gruppen.

Wiktor Kriwulin wurde 1944 in Kadijewka in der Ostukraine als Sohn eines Offiziers geboren. 1947, nach der Demobilisierung des Vaters, kehrte die Familie nach Leningrad zurück, wo sie vor dem Krieg gelebt hatte.

Kriwulin begann bereits als Schüler, Gedichte zu schreiben. Im Frühjahr 1960 lernte er Anna Achmatowa kennen, etwas später Joseph Brodsky. 1961–67 studierte er russische Philologie an der Universität Leningrad. 1966 gründete er mit Freunden eine der ersten unabhängigen Dichtergruppen, die „Schule Konkreter Poesie“, die bis 1970 bestand. Im letzten Studienjahr trat er demonstrativ aus dem kommunistischen Jugendverband „Komsomol“ aus. Er arbeitete als Korrektor und unterrichtete in einer Schule.

Mitte der 60er Jahre entwickelte sich das unabhängige literarisch-künstlerische Leben Leningrads zu einem Phänomen, das später „zweite Kultur“ genannt wurde. Es war ein Verbund von Künstlerinitiativen, die weniger gegen offizielle Verbote und Auflagen gerichtet waren, sondern diese lediglich ignorierten. Die vielfältigen Richtungen und Schulen verband das gemeinsame Streben, durch die Erneuerung des künstlerischen Schaffens eine Alternative zur offiziellen Kunst zu gestalten. Kriwulin gehörte der Generation an, die nach dieser Erneuerung entstand, sein Name wurde etwas später, in den 70er Jahren, bekannt.

Zwischen 1970 und 1988 arbeitete er als Literatur-Redakteur im Leningrader Bezirkshaus für hygienische Aufklärung. Er war nicht nur als Dichter und Literaturkritiker bekannt. In den 70er Jahren organisierte er auch die bedeutendsten Leningrader Initiativen der „zweiten Kultur“ und beteiligte sich an ihnen. Dazu zählten nicht nur unabhängige Zeitungen, sondern auch einige öffentliche Aktionen. Am 14. Dezember 1975 wurde er auf dem Weg zum Leningrader Senatsplatz verhaftet, wo Gedichte nonkonformistischer Autoren anlässlich des 150. Jahrestages des Dekabristen-Aufstandes rezitiert werden sollten.

Offiziell wurde Kriwulin so gut wie gar nicht publiziert, bis 1985 erschienen nur sehr wenige seiner Gedichte. Allerdings kursierten in Leningrad relativ viele Bände von ihm, die im Samisdat erschienen waren. Von 1971 bis Mitte der 80er Jahre veröffentlichte er sechs solcher Sammelbände.

1974 und 1975 stellte er gemeinsam mit Julia Wosnessenskaja und einigen anderen jungen Literaten die erste Anthologie der inoffiziellen Leningrader Poesie „Lepta“ (Beitrag) zusammen. Der Versuch, diesen Sammelband in einem offiziellen Verlag zu veröffentlichen, führte zu langjährigen Auseinandersetzungen mit den ideologisch verblendeten Entscheidungsträgern Leningrads, den KGB eingeschlossen. Die Verhandlungen brachten jedoch kein Ergebnis.

Ab Frühjahr 1976 gab er zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Tatjana Goritschewa, die literarisch-publizistische und religionsphilosophische Monatsschrift „37“ heraus. Der Name der Zeitschrift, der Assoziationen mit dem tragischen Jahr des Großen Terrors 1937 hervorrief, war der Wohnungsnummer der beiden Eheleute entnommen. Neben literarischen Texten veröffentlichte „37“ auch religionsphilosophische Artikel, Übersetzungen und eine Chronik wichtiger Leningrader Kulturveranstaltungen. Das ideelle Profil der Zeitschrift wurde in hohem Maße durch die Texte von Boris Groys bestimmt, der heute einer der führenden russischen Philosophen und Kulturtheoretiker ist. Die Herausgeber sahen ihre Mission darin, eine Metasprache zu erschaffen, die fähig ist, den aktuellen Stand der sowjetischen Kunst zu beschreiben und deren „Grenzbereiche“ zu erforschen. Die Zeitschrift erschien bis März 1981 in 21 Ausgaben, bis sie auf Druck des KGB und bedingt durch die Emigration der wichtigsten Autoren eingestellt werden musste. Nach Meinung von Kriwulin war „37“ bereits eine der internationalen post-avantgardistischen Publikationen zu einer Zeit, als der Begriff der Postmoderne Russland noch gar nicht erreicht hatte.

Kriwulin beteiligte sich auch an der Konzeption und der Vorbereitung der unabhängigen Zeitschrift „Severnaja Počta“ (Nördliche Post), die ausschließlich der Poesie gewidmet war. 1979–81 erschienen acht Ausgaben unter der Redaktion von Kriwulin und Sergej Diedulin. Kriwulin publizierte auch in den Leningrader Untergrund-Zeitschriften „Časy“ (Uhr) und „Obvodnyj Kanal“ (Umführungskanal). Er war der erste Preisträger des unabhängigen Literaturpreises „Andrei Bely“, der 1978 von der Zeitschrift „Časy“ ins Leben gerufen wurde. Bis heute ist dies eine prestigeträchtige Auszeichnung.

Ab 1975 publizierte Kriwulin unter anderem auch auch in den russischen Exilzeitschriften „Echo“, „Kontinent“, „Grani“ und „Vestnik russkogo christianskogo dviženija“ (Bote der Russischen Christlichen Bewegung). Er war Verfasser von literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Werk von Innokenti Annenski, Andrei Bely, Joseph Brodsky sowie Ossip Mandelstam und gab in Paris zwei Gedichtsammlungen heraus.

Unter der kulturellen Avantgarde Leningrads, die sich von den spezifisch „Moskauer“ oppositionellen Aktivitäten zur Verteidigung der Menschenrechte distanzierte, galt Kriwulin als „politisierter Dissident“. Einige seiner Aktivitäten verstärkten diesen Ruf, zum Beispiel unterzeichnete er 1976 einen kollektiven Brief zur Verteidigung von Sergej Kowaljow. Im Laufe seiner verlegerischen Tätigkeit wurde er vielfach Hausdurchsuchungen und Verhören unterzogen.

Im Dezember 1980 gründete Kriwulin die informelle Literatur- und Künstlergruppe „Svobodnyj kulturnyj cech“ (Freie kulturelle Zunft). Er stand an der Spitze der 1981 gegründeten Gruppe für Poesie des „Schöpferischen Literatenverbands 81“, der später den Namen „Klub 81“ annahm und als erste legalisierte Organisation die Vertreter der Leningrader „zweiten Kultur“ vereinte.

Ab 1985 publizierte er in der Sowjetunion im Almanach „Krug“ (Kreis), als Mitglied des Redaktionskollegium in „Vestnik novej literatury“ (Zeitschrift neuer Literatur) sowie in den Zeitschriften „Oktjabr“ (Oktober) und „Družba narodov“ (Völkerfreundschaft). 1990 wurde er in den Schriftstellerverband der UdSSR aufgenommen, im gleichen Jahr erschien sein erster offizieller Gedichtband.

Kriwulin gewann den Hauptpreis im gesamtsowjetischen Wettbewerb des Freien Gedichtes 1989 in Kaluga 1989 und wurde 1990 mit dem Hamburger Puschkin-Preis ausgezeichnet. Seine Gedichte wurden in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt.

1989–91 unterrichtete er Literatur am Klassischen Gymnasium in Sankt Petersburg. Noch in seinen letzten Lebenstagen nahm er am gesellschaftlichen und politischen Leben der Stadt teil, war in demokratischen gesellschaftlichen und politischen Organisationen tätig, wirkte als Vize-Präsident des Sankt Petersburger P.E.N.-Clubs und kandidierte 1998 für den Stadtrat.

Wiktor Kriwulin starb 2001 in Sankt Petersburg.

Aleksandra Resnikowa
Aus dem Polnischen von Sonja Stankowski
Letzte Aktualisierung: 12/15