Russland

Waleri Tschalidse

Waleri Tschalidse, 1938–2018

Valerij Nikolaevič Čalidze

Валерий Николаевич Чалидзе

Physiker, Menschenrechtler und Gründungsmitglied des „Komitees für Menschenrechte in der UdSSR“. Historiker, Rechtstheoretiker und Verleger.

Waleri Tschalidse wurde 1938 in Moskau geboren. Sein Vater war Ingenieur, seine Mutter Architektin. Er ging zum Studium ins georgische Tiflis (Tbilissi), wo er 1965 seinen Universitätsabschluss in Physik machte. Nach der Rückkehr nach Moskau wurde er Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Forschungsinstitutes für Plastische Chemie und veröffentlichte einige wissenschaftliche Artikel.

Zusammen mit Alexander Jessenin-Wolpin und Boris Zukerman war er ein Pionier der juristischen Bildung unter der unabhängig denkenden Intelligenz. Tschalidse propagierte eine legalistische Herangehensweise an die Verteidigung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Er forderte, das bestehende Recht solle trotz seiner ganzen Unvollkommenheit sowohl von den Bürgern als auch von der Regierung strikt eingehalten werden. Die Machthaber würden, so Alexander Jessenin-Wolpin, jedoch ständig gegen das Recht verstoßen, wobei sie ihre Maßnahmen mit außerrechtlichen Argumenten begründeten. Sie beriefen sich zum Beispiel auf „politische Gründe“ bzw. darauf, dass das Offenlegen von Menschenrechtsverstößen in der UdSSR von ausländischen Geheimdiensten zu feindlichen Zwecken missbraucht werden könne.

Tschalidse argumentierte, dass es nicht rechtwidrig sei, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die freie Wahl des Wohnortes und andere Menschenrechte durch Aktionen zu verteidigen, solange man sich an die Buchstaben des Gesetzes halte. Diese Menschenrechte seien von der sowjetischen Verfassung und zahlreichen internationalen Abkommen garantiert. Vielmehr sei es der Staat, der rechtswidrig vorgehe, wenn er Menschen aufgrund ihrer Überzeugungen verfolge.

Gegen Ende der 60er Jahre kursierten einige von Tschalidses Texten im Samisdat, darunter der Essay „Über die bürgerlichen Menschenrechte“ (O graždanskich pravach čeloveka) sowie seine „Gedanken über den Fortschritt, die friedliche Koexistenz und die intellektuelle Freiheit“ (Razmyšlenija o progresse, mirnom sosuščustvovanii i intellektualnoj svobode) als Antwort auf Andrei Sacharows Aufsatz mit dem gleichen Titel.

Ab August 1969 gab Tschalidse die unabhängige Zeitschrift „Obššestvennyje problemy“ (Gesellschaftliche Probleme) heraus, von der bis Februar 1972 insgesamt 15 Ausgaben erschienen. Darin veröffentlichten Grigori Pomeranz, Roi Medwedew, Alexander Jessenin-Wolpin, Sofiya Kalistratowa in anonymer Form, Tschalidse selbst und andere Autoren; auch wurden Übersetzungen von Dokumenten internationaler Organisationen wie der UNO, UNESCO und IAO veröffentlicht.

Im Herbst 1970 ergriff Tschalidse die Initiative und gründete das Komitee für Menschenrechte in der UdSSR, dessen Satzung er ebenfalls schrieb. Gründungsmitglieder waren außerdem Alexander Jessenin-Wolpin und Boris Zukerman. Das Komitee war als Forschungsorganisation gedacht, jedoch meldeten sich viele Sowjetbürger, um Rechtsbeistand zu suchen. Tschalidse, der das sowjetische Straf-, Prozess- und Zivilrecht, aber auch die internationalen Menschenrechtsabkommen im Selbststudium durchgearbeitet hatte, trat nicht selten als Privatperson in der Rolle eines Bevollmächtigten für Bürgeranliegen wie Ausreisegenehmigung zum Verlassen der UdSSR, Revisionen ungerechtfertigter Gerichtsurteile und Registrierung religiöser Gemeinschaften auf.

Tschalidses gesellschaftliches Engagement reizte die Behörden, obwohl er peinlichst genau darauf achtete, alle Rechtsvorschriften einzuhalten. So wurde beispielsweise der Versuch unternommen, seine Korrespondenz und Telefongespräche mit dem Ausland zu unterbinden. Nachdem ein Aktivist des Flämischen Menschenrechtskomitees ihn in seiner Wohnung besucht hatte, wurde die Wohnung einer Hausdurchsuchung unterzogen, bei der der KGB das Archiv des Komitees für Menschenrechte in der UdSSR konfiszierte. Die Hausdurchsuchung und seinen Kampf um die Rückgabe der konfiszierten Materialien beschrieb Tschalidse in der im Mai 1971 im Samisdat herausgegebenen Broschüre „Ko mnie prišël inostranec“ (Ein Ausländer kam zu mir). Im Juli 1972 erhielt er von der Staatssicherheit eine Warnung wegen des angeblichen antisowjetischen Charakters der Arbeit des Komitees für Menschenrechte in der UdSSR. Ab dem 4. September 1972 verzichtete Tschalidse auf die Mitgliedschaft im Komitee für Menschenrechte in der UdSSR, blieb aber dessen Berater.

Im November 1972 erhielt Tschalidse die Genehmigung für eine Reise in die USA, wo er Vorträge zur Verteidigung der Menschenrechte halten wollte. Dies war einer der ersten Fälle, bei denen eine Person, die für ihr unabhängiges zivilgesellschaftliches Engagement bekannt war, die Genehmigung für einen befristeten Auslandsaufenthalt erhielt. Die Quasi-Freiwilligkeit, in die – in diesem Fall westliche – Verbannung zu gehen, war damals vollkommen neu und rief kontroverse Reaktionen hervor: Einige Dissidenten bewerteten die Reise als Ausdruck von Tschalidses Bereitschaft, sich „fremden Spielregeln“ zu unterwerfen. Tatsächlich wurde ihm während seines Aufenthaltes in den USA die sowjetische Staatsbürgerschaft aufgrund von „für einen Sowjetbürger unwürdigen Verhaltens“ am 13. Dezember 1972 entzogen. Tschalidse war somit ausgebürgert.

Die Mehrheit der Moskauer Menschenrechtsaktivisten teilte jedoch nicht die Ansicht, Tschalidse habe „dem Druck nachgegeben“. In dem im Januar 1973 verbreiteten offenen Brief Moskauer Dissidenten „Ob obščestvennoj dejatel‘nosti V. Čalidze“ (Über das gesellschaftliche Engagement W. Tschalidses) wurden seine publizistischen und verlegerischen Tätigkeiten, aber auch die Ausreise ins Ausland als „mutige Experimente im rechtlichen Bereich“ beurteilt, „die den Machthabern bewusst gemacht haben, dass sie rechtswidrig handeln“.

Tschalidse ließ sich in New York nieder, wo er seine Forschungsarbeiten und Verlagstätigkeiten fortsetzte. Er veröffentlichte das Buch „Prava čeloveka i Sovetskij Sojuz“ (Menschenrechte und Sowjetunion) sowie mehrere Monographien zu Recht, Geschichte und Soziologie. Unter seiner Redaktion erschien der Sammelband „Otvetstvennost‘ pokolenija“ (Die Verantwortung einer Generation) mit Interviews sowjetischer Exil-Dissidenten.

Als Tschalidse hörte, dass in Moskau die „Chronik der laufenden Ereignisse“ eingestellt wurde, gab er 1973 in New York in russischer und englischer Sprache ein analoges Informationsbulletin unter dem Titel „Chronik der Verteidigung des Rechts in der UdSSR“ (Chronika zaščity prav v SSSR) heraus, das bis 1981 mit ihm als Chefredakteur erschien. Zusammen mit Peter Reddaway, der zur sowjetischen Menschenrechtsbewegung forschte, und Edward Klein, einem Verleger russischer Literatur, gründete Tschalidse den 1973–83 existierenden Verlag „Chronika“ Außer der „Chronik“ veröffentlichte der Verlag auch Materialien aus dem sowjetischen Samisdat auf Russisch.

Als 1974 die „Chronik der laufenden Ereignisse“ wieder erschien, wandte sich die Moskauer Redaktion mit dem Vorschlag an Tschalidse, ihre Interessen im Ausland zu vertreten. Fortan erschienen Reprints der „Chronik der laufenden Ereignisse“ in Tschalidses New Yorker Verlag. Als die „Chronik der laufenden Ereignisse“ Ende 1982 in der Sowjetunion eingestellt wurde, beendete auch Tschalidses Verlag seine Tätigkeit. Tschalidse gründete mit „Chalidze Publications“ ein neues Verlagshaus.

1981–89 war Tschalidse Chefredakteur des analytischen Periodikums „SSSR. Vnutrennije protivorečija” (UdSSR. Innere Widersprüche), in dem neben Emigranten auch Andrei Sacharow, Roi Medwedew, Michail Gefter und Gleb Jakunin veröffentlichten.

Waleri Tschalidse starb am 3. Januar 2018 in Benson, im US-Bundesstaat Vermont.

Dmitrij Zubariew, Giennadij Kuzkowkin
Aus dem Russischen von Markus Pieper und Sonja Stankowski
Letzte Aktualisierung: 02/19