Russland

Tatjana Welikanowa

Tatjana Welikanowa, 1932–2002

Tat’jana Michajlovna Velikanova

Татьяна Михайловна Великанова

Mathematikerin, Programmiererin und politische Gefangene. Mitglied der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR und jahrelang Herausgeberin der „Chronik der laufenden Ereignisse“.

Tatjana Welikanowa wurde 1932 in Moskau als Tochter eines bekannten sowjetischen Hydrologen geboren, der seit 1939 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften war. Von ihren sieben Geschwistern engagierten sich fast alle mehr oder weniger intensiv in der Menschenrechtsbewegung.

1954 schloss Welikanowa ihr Studium an der Fakultät für Mechanik und Mathematik der Moskauer Universität ab. Anschließend arbeitete sie als Lehrerin im Nordural und ab 1957 als Programmiererin in Moskau.

Welikanowa war am 25. August 1968 während der Demonstration der Sieben auf dem Roten Platz anwesend, nahm aber im Unterschied zu ihrem Mann Konstatin Babizki an der Demonstration selbst nicht teil. Während des Prozesses gegen die Demonstranten trat Welikanowa als Zeugin der Verteidigung auf. Nachdem ihr Mann verhaftet worden war, engagierte sie sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre aktiv in der Menschenrechtsbewegung und unterzeichnete zahlreiche öffentliche Protesterklärungen. Ab Mai 1969 gehörte Welikanowa zur Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR und arbeitete an der redaktionellen Bearbeitung der meisten Veröffentlichungen der Gruppe mit.

Welikanowa war unmittelbar an der Herausgabe der „Chronik der laufenden Ereignisse“ beteiligt. Nach der Verhaftung von Natalja Gorbanewskaja übernahm sie die Sammlung, Systematisierung und Archivierung eingehender Informationen, die Vervollständigung des Archivs, das Organisieren von Wohnungen für die redaktionelle Arbeit, die Aufgabenverteilung für die Mitarbeiter, die Vorbereitung von Redaktionstreffen, die Abschrift von Manuskripten, das Erstellen von Vorabfassungen des Bulletins und die Anfertigung und Verteilung der sogenannten Nullnummern, das heißt der ersten zehn bis zwölf Exemplare. Bis zu ihrer Verhaftung 1979 war Welikanowa damit die Hauptverantwortliche für die organisatorische Arbeit an der „Chronik der laufenden Ereignisse“.

Im Januar 1973 nahm Welikanowa an einem Treffen teil, bei dem auf Druck des KGB entschieden werden musste, die „Chronik der laufenden Ereignisse“ einzustellen. Bereits im Herbst desselben Jahres gehörte Welikanowa zu denjenigen, die die Wiederbelebung der Zeitschrift unterstützten. Nach anderthalbjähriger Unterbrechung erschienen im Mai 1974 gleichzeitig die Nummern 28, 29 und 30 der „Chronik der laufenden Ereignisse“. Welikanowa, Sergei Kowaljow und Tatjana Chodorowitsch erklärten öffentlich, dass sie die Verantwortung für die weitere Herausgabe des Bulletins tragen würden. Sie taten dies auch, um damit im Voraus etwaige Erpressungsversuche gegen andere Mitarbeiter abzuwehren.

Am 30. Oktober 1974 nahm Welikanowa in der Wohnung von Andrei Sacharow an einer Pressekonferenz teil, auf der der 30. Oktober zum Tag des politischen Häftlings in der UdSSR erklärte wurde. Gemeinsam mit Sergei Kowaljow präsentierte Welikanowa dort den westlichen Journalisten auch eine Sonderausgabe der „Chronik der laufenden Ereignisse“ (Nr. 33), die ausschließlich Informationen über politische Gefangene sowie über diejenigen Straflager enthielt, in denen diese festgehalten wurden.

In den 70er Jahren wurde Welikanowas Wohnung zu einem der wichtigsten Knotenpunkte, wo Informationen über politisch Verfolgte aus allen Teilen des Landes zusammenliefen. Darüber hinaus beteiligte sich Welikanowa an den Bemühungen von Mark Popowski, eine unabhängige Nachrichtenagentur zu Menschenrechtsfragen zu gründen.

1976 wurde Welikanowa aus ihrer Arbeit entlassen und es fanden bei ihr mehrfach Hausdurchsuchungen statt. Am 1. November 1979 wurde sie verhaftet und angeklagt, Texte der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR an die UNO verfasst, die „Chronik der laufenden Ereignisse“ herausgegeben und mit ausländischen Herausgebern der Bulletins in Kontakt gestanden zu haben. Dies sollte vor Gericht durch einen an sie gerichteten Brief von Pawel Litwinow aus New York belegt werden. Das Moskauer Stadtgericht verurteilte sie dann am 29. August 1980 nach Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR zu vier Jahren Haft im Lager mit besonderem Vollzug sowie zu fünf Jahren anschließender Verbannung.

Noch vor der Gerichtsverhandlung wurde in Moskau ein Komitee zu Verteidigung Tatjana Welikanowas gegründet, dem unter anderem Leonard Ternowski, Alexander Lawut und Malwa Landa angehörten.

Nach Ablauf ihrer Haft, die Welikanowa in einem Frauenlager in den mordwinischen Lagern verbüßt hatte, wurde sie Ende 1983 in das Gebiet Mangyschlak in Westkasachstan verbannt. Im Mai 1987 wurde sie im Rahmen einer von Parteichef Michail Gorbatschow erlassenen Amnestie über ihre Begnadigung informiert, verweigerte jedoch bis Dezember die Anerkennung der Begnadigung und blieb am Ort ihrer Verbannung.

Nach der Rückkehr aus Moskau arbeitete Welikanowa in einer Schule und unterrichtete jüngere Klassen in Mathematik und Russisch.

Während ihres Wirkens in der Dissidentenbewegung hielt sich Welikanowa immer streng an die Regel, nicht mit den Strafverfolgungsorganen zusammenzuarbeiten. Sie verweigerte nicht nur Geständnisse, sondern auch die Mitwirkung an Prozessen und der Erstellung von Verhörprotokollen. Ihre Haltung begründete sie immer wieder damit, dass jedwede Handlung zur Unterdrückung des freien Denkens a priori unrechtmäßig sei. Sie war eine der wenigen Personen, denen es gelang, diesem Prinzip auch während des Untersuchungsverfahrens treu zu bleiben.

Tatjana Welikanowa war eines der angesehensten Mitglieder der sowjetischen Menschenrechtsbewegung. Sie starb 2002 in Moskau.

Alexander Daniel
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16