Roi Medwedew

Roi Medwedew, geboren 1925

Roj Aleksandrovič Medvedev

Рой Александрович Медведев

Historiker und Autor der unabhängigen Studie „Das Urteil der Geschichte“. Redakteur zweier unabhängiger Zeitschriften sowie Vordenker des kommunistischen Flügels der Dissidentenbewegung.

Roi Medwedew wurde 1925 im georgischen Tiflis (Tbilissi) geboren. Sein Vater, Parteifunktionär und Philosophiedozent, wurde in der Zeit des Großen Terrors erschossen. Den Vornamen Roi hatte er seinem Sohn zu Ehren eines indischen Revolutionärs gegeben. Der Zwillingsbruder von Roi wurde Schores Medwedew genannt.

Roi Medwedew leistete 1945 Militärdienst. Seinen Wunsch, eine Offiziersschule zu besuchen, durfte er als Sohn eines sogenannten „Volksfeindes“ nicht realisieren. 1951 gelang es ihm, einen Studienplatz in Philosophie an der Universität Leningrad zu erhalten.

Zwischen 1951 und 1957 war er Lehrer und Direktor in verschiedenen Gymnasien in den Gebieten Swerdlowsk und Leningrad. Zugleich nahm er 1954 ein Fernstudium am Pädagogischen Institut „W. I. Lenin“ in Moskau auf. 1958 zog er nach Moskau, wo er in einem Schulbuchverlag arbeitete. 1959 wurde er Mitglied der KPdSU. 1961–71 war er zuerst wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Abteilungsleiter im Forschungsinstitut für Berufsbildung der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der UdSSR. Dort leitete er auch die Betriebsparteiorganisation.

In der ersten Hälfte der 60er Jahre begann er, schriftliche und mündliche Informationen über Stalins Machtübernahme seiner 30-jährigen Herrschaft zu sammeln. Medwedew verfasste eine über 1.000 Seiten umfassende Monografie mit dem Titel „Das Urteil der Geschichte“ (K sudu istorii). Die ursprüngliche Fassung dieses Werks erschien ab Mitte der 60er Jahre im Samisdat. Bis 1968 arbeitete er an der endgültigen Fassung, die er dann dem Zentralkomitee der KPdSU übergab.

Durch dieses Manuskript erlangte Medwedew Bekanntheit. Er wurde zu einer herausragenden Persönlichkeit des unabhängigen Geisteslebens der Sowjetunion, knüpfte Kontakte zu Alexander Solschenizyn und Andrei Sacharow. Um ihn herum bildete sich ein Kreis Intellektueller der sowjetischen Hauptstadt, zu dem Journalisten, Schriftsteller, Wissenschaftler und auch einige Mitglieder des Parteiapparats des ZK der KPdSU gehörten – die meisten von ihnen Anhänger eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Zu dem Kreis gehörten auch einige alte Bolschewiken, die unter den Repressionen der Stalin-Zeit gelitten hatten. 1970 zerfiel die Gruppe teils durch staatlichen Druck, teils infolge der Enttäuschung, die sich hinsichtlich der Perspektiven für den Sozialismus nach dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei breitmachte. Viele junge Leute aus dem damaligen Umfeld Medwedews wurden Ende der 80er Jahre zu Vordenkern und Aktivisten der Perestroika. Es war der Kreis um Medwedew, der Andrei Sacharow zu seinen „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ (Razmyšlenia o progresse, mirnom sosuščestvovanii i intelektualnoj svobode) inspirierte. Die ersten Leser und Gutachter des Manuskripts waren Medwedew und seinen Freunde. Auch seiner Vermittlung war es zu verdanken, dass der Text im Samisdat erscheinen konnte.

1964 gründete Medwedew eine Monatsschrift als erste regelmäßig erscheinende, unabhängige Zeitschrift, in der politische und gesellschaftliche Probleme erörtert wurden. Von diesem Bulletin wurden – von Medwedew redigiert – bis 1971 insgesamt 75 Nummern herausgebracht. Die Auflage war auf zirka 20 Exemplare begrenzt, was zum Teil auf die Herausgeber selbst zurückging, die sich recht deutlich sowohl von anderen Samisdat-Initiativen als auch von den Aktivisten der damals entstehenden Menschenrechtsbewegung, der von ihnen so genannten „Grigorenko-Litwinow-Gruppe“, distanzierten. Der Leserkreis bestand somit in erster Linie aus Personen in Medwedews Umfeld. Später wurden ausgewählte Beiträge im Westen unter dem Namen „Politisches Tagebuch“ (Političeskij dnevnik) nachgedruckt.

In Medwedews Bulletin wurden ZK-Dokumente veröffentlicht und diskutiert, darunter auch Geheimdokumente, die Medwedew von einem Mitarbeiter der Zeitschrift „Kommunist“ erhielt. Außerdem erschienen dort Informationen über aktuelle Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens, über die nichts in der offiziellen Presse stand, wie etwa Kundgebungen, Demonstrationen, Neuerscheinungen im Samisdat sowie auch Beiträge zu Tabuthemen der sowjetischen Geschichte. Von der ideologischen Ausrichtung her stand das „Politische Tagebuch“ dem sich in jenen Jahren im Westen herausbildenden Eurokommunismus nahe.

Unmittelbar vor dem 90. Geburtstag Stalins 1969 übersandte Medwedew der Redaktion der Zeitschrift „Kommunist“ seinen Beitrag „Ist heute eine Rehabilitierung Stalins möglich?“ (Vozmožno li segodnja reabilitirovat‘ Stalina?), in dem er die Verbrechen Stalins aufzählte. Der Aufsatz wurde selbstverständlich nicht veröffentlicht, fand aber im Samisdat Verbreitung und erschien später in Frankreich in einer eigenständigen Broschüre. Aufgrund dieses Beitrags sowie wegen seines als „parteifeindlich“ eingestuften Buches „Das Urteil der Geschichte“ wurde Medwedew aus der Partei ausgeschlossen. Am 19. März 1970 richtete er gemeinsam mit Andrei Sacharow und Walentin Turtschin einen Brief an die Partei- und Staatsführung mit einem Programm für liberal-demokratische Reformen der sowjetischen Gesellschaft unter Führung der KPdSU. Dieses Schreiben fand sowohl in der UdSSR als auch im Ausland ein breites Echo. Es handelte sich dabei um einen der letzten Versuche für einen Dialog zwischen Dissidenten und Staatsmacht.

Ende Mai, Anfang Juni 1970 war Medwedew einer der Organisatoren einer sehr wirkungsvollen Solidaritätsbewegung für seinen Bruder Schores Medwedew, der zwangsweise in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden war. Der Kampf um seine Freilassung wurde in dem im Ausland herausgegebenen Buch der beiden Brüder „Wer ist hier verrückt?“ (Kto sumasšedšij?) thematisiert. Am 25. Februar 1971 legte er dem Komitee für Menschenrechte in der UdSSR sein Referat „Zu politisch motivierten Fällen von Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen“ (О prinuditel‘nych psichiatričeskich gospitalizacijach po političeskim motivam) vor.

Am 12. November 1971 wurde Medwedews Wohnung durchsucht. Dabei wurde ein bedeutender Teil seines Archivs – sechs Säcke mit Manuskripten – beschlagnahmt. Im selben Jahr wurde ihm gekündigt, so dass er sich mit Honoraren über Wasser halten musste, die er für im Westen erschienene Bücher und Aufsätze erhielt.

Nikolai Mitrochin
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 04/16