Russland

Natalja Gorbanewskaja

Natalja Gorbanewskaja, 1936–2013

Natal‘ja Jevgen‘evna Gorbanevskaja

Наталья Евгеньевна Горбаневская

Dichterin, Übersetzerin, Initiatorin und erste Redakteurin der „Chronik der laufenden Ereignisse“, Teilnehmerin der Demonstration der Sieben, Mitglied der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR, Opfer sowjetischer Zwangspsychiatrie.

Natalja Gorbanewskaja wurde am 26. Mai 1936 in Moskau geboren. 1953 nahm sie ein Studium an der Philologischen Fakultät der Universität Moskau auf, wurde jedoch im Herbst 1957 wegen Verbreitung „antisowjetischer Propaganda“ der Hochschule verwiesen. Bereits im März 1957 hatte der KGB sie als Zeugin vorgeladen, da Freunde von ihr Flugblätter verteilt hatten, in denen sie gegen die sowjetische Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands von 1956 protestierten. 1958 nahm sie ein Fernstudium an der Philologischen Fakultät der Universität Leningrad auf, das sie 1963 abschloss.

Bereits zuvor hatte Gorbanewskaja an Veranstaltungen eines literarischen Arbeitskreises teilgenommen und erste Gedichte veröffentlicht. Sie arbeitete in verschiedenen Moskauer Redaktionen und fertigte Nachdichtungen aus den slawischen Sprachen (vor allem Polnisch) und romanischen Sprachen an. Ab 1959 veröffentlichte sie in Samisdat-Zeitschriften wie „Feniks“ und „Sintaksis“. Ab 1969 erschienen ihre Gedichte auch im Westen.

Gorbanewskaja unterstütze die Petitionskampagne zur Freilassung der beiden russischen Dissidenten Andrei Sinjawski und Juli Daniel, die im Februar 1966 verurteilt worden waren (Prozess gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel). 1967 und Anfang 1968 beteiligte sie sich an der Petitionskampagne im Zusammenhang mit dem Prozess der Vier und setzte sich auch darüber hinaus für Menschen ein, die staatlicherseits aus politischen Gründen verfolgt wurden. Im Februar 1968 wurde sie daraufhin das erste Mal kurzzeitig zwangshospitalisiert. Die Erfahrungen dieses erzwungenen Aufenthaltes in der Moskauer Kaschtschenko-Klinik für psychiatrische Krankheiten beschrieb sie in ihrem Essay „Kostenlose medizinische Hilfe“ (Bezplatnaja medicins‘kaja pomošč), der 1971 im Samisdat erschien.

Im April 1968 kam die erste Nummer der „Chronik der laufenden Ereignisse“ heraus. Unter Gorbanewskajas Leitung entstanden die ersten zehn Ausgaben. Der von ihr entwickelte nüchterne, wertungsfreie Stil sowie die sachliche Darstellung von Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR wurden zum Markenzeichen der Chronik. Am 25. August 1968 beteiligte sie sich an der Demonstration der Sieben auf dem Roten Platz. Sie erschien mit ihrem knapp drei Monate alten Sohn, dessen Kinderwagen als Versteck für eine Fahne der Tschechoslowakei und zwei selbstgemalte Transparente (eines davon beschriftet mit der berühmten Parole: „Für eure und unsere Freiheit“) dienten, mit denen die Demonstranten gegen den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei protestierten. Der KGB ging massiv gegen sie vor. Gorbanewskaja wurde bei der Festnahme verletzt, kam allerdings nach einem kurzen Verhör und anschließender Haussuchung noch am selben Tag frei. Um einen internationalen Skandal zu vermeiden, sahen die sowjetischen Behörden von härteren Maßnahmen gegen die alleinerziehende Mutter ab. Von der Demonstration berichtete Gorbanewskaja in einem Brief an die Redaktionen mehrerer westlicher Zeitungen, die ihn veröffentlichten. In einem psychiatrischen Gutachten, das wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration beauftragt wurde, erklärte man Gorbanewskaja für unzurechnungsfähig. Auf eine Zwangsbehandlung verzichtete man vorerst, unterstellte sie jedoch der Obhut ihrer Mutter. Ende März 1969 erwirkte sie die Stellungnahme eines führenden Psychiaters, der ihr attestierte, dass sie nicht an Schizophrenie leide und somit weder einer Behandlung in einer psychiatrischen Einrichtung bedürfe noch auf die Fürsorge ihrer Mutter angewiesen sei.

Im Herbst 1968 begann Gorbanewskaja mit der Arbeit an ihrem dokumentarischen Buch „Mittags auf dem Roten Platz“ (Polden‘. Delo o demonstracii 25 avgusta 1968 goda na Krasnoj ploščadi), in dem sie die Vorgänge während der Demonstration genau beschrieb. Sie konnte das Buch fertigstellen, bevor sie am 24. Dezember 1969 erneut verhaftet wurde. Während ihr Bericht im russischen Samisdat und im Ausland Verbreitung fand, wurde Gorbanewskaja auf Grundlage von Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR und Artikel 191 (Widerstand gegen Vertreter der Staatsgewalt in Einheit mit Körperverletzung) folgender Delikte angeklagt: Teilnahme an der Demonstration der Sieben sowie Niederschrift und Verbreitung eines Briefes über dieses Ereignis, Verfassen der Samisdat-Schrift „Kostenlose medizinische Hilfe“, Unterzeichnung mehrerer offener Briefe der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR an internationale Organisationen, Beteiligung an der Herausgabe der „Chronik der laufenden Ereignisse“ sowie Körperverletzung (Gorbanewskaja hatte bei einer der vielen Wohnungsdurchsuchungen einen KGB-Agenten weggestoßen, in dessen Folge dieser sich angeblich einen Finger verletzt hatte).

Nach ihrer Festnahme war Gorbanewskaja einige Zeit im Moskauer Butyrka-Gefängnis inhaftiert. Im April 1970 diagnostizierte das Serbski-Institut bei ihr eine „schleichende Schizophrenie“. Für die sowjetischen Behörden war dies eine bewährte Methode, um unliebsame Oppositionelle zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen. Am 7. Juli 1970 ordnete das Moskauer Stadtgericht die Zwangsbehandlung Gorbanewskajas an und ließ sie im Spezialkrankenhaus für Psychiatrie in Kasan unterbringen. Im Oktober 1971 wurde sie erneut in das Moskauer Butyrka-Gefängnis verlegt. Ihre Erlebnisse dokumentierte sie in Form von Briefen an ihre Mutter und an ihre Söhne sowie an Freunde, und sie schrieb Gedichte, in denen sie ihren Aufenthalt in den Kliniken thematisch aufgriff. Am 22. Februar 1972 wurde sie entlassen und kehrte nach Moskau zurück. Sie engagierte sich weiterhin für Menschenrechte und unterzeichnete Petitionen für die Dissidenten Gabriel Superfin, Leonid Pljuschtsch sowie einen Nachruf auf Juri Galanskow.

Am 17. Dezember 1975 emigrierte Gorbanewskaja aus der UdSSR und ließ sich in Paris nieder. Schon kurz nach ihrer Ausreise arbeitete sie für die Pariser Exil-Zeitschrift „Kontinent“, zunächst als Redaktionssekretärin, ab 1983 als stellvertretende Chefredakteurin. Ab 1976 war sie zudem Auslandskorrespondentin der unabhängigen Samisdat-Geschichtszeitschrift „Pamjat‘“. 1980 und 1981 gab sie Dokumente über die Solidarność in russischer Sprache heraus und forderte Solidarität mit der protestierenden polnischen Bevölkerung. Auch übersetzte sie Gedichte bekannter polnischer Dichter ins Russische.

Ab 1990 konnte sie in Russland publizieren und wiederholt ihre Heimat besuchen. Bis 2003 arbeitete sie mit der Pariser Exil-Wochenschrift „Russkaja Mysl“ zusammen, Texte und Übersetzungen von ihr erschienen (bereits ab 1999) auch in der russischsprachigen Warschauer Monatsschrift Nowaja Polscha (Neues Polen). 2005 wirkte sie an dem Dokumentarfilm „Sie wählten die Freiheit“ (Oni wybirali svobodu) von Wladimir Kara-Mursa über die Demonstration der Sieben mit. Im selben Jahr erhielt sie den Jerzy-Giedroyc-Preis für ihren „langjährigen, aufopferungsvollen Einsatz für den Aufbau von Freundschaft, Vertrauen und Verständigung unter den Völkern und Staaten Osteuropas, insbesondere zwischen Polen und Russen“ und nahm nach Jahren der Staatenlosigkeit die polnische Staatsbürgerschaft an. 2008 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Maria-Curie-Skłodowska-Universität Lublin. Gorbanewskaja blieb neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit bis ins hohe Alter gesellschaftlich aktiv. Zum Gedenken an den 45. Jahrestag der Demonstration der Sieben nahm Gorbanewskaja 2013 an einer Demonstration mit rund einem Dutzend Teilnehmern auf dem Roten Platz teil, bei der erneut ein Banner mit der Parole „Für eure und unsere Freiheit“ entrollt wurde. Viele von Gorbanewskajas Mitstreitern wurden von der Polizei vorübergehend festgenommen.

Natalja Gorbanewskaja starb am 29. November 2013 in Paris. Sie wurde auf dem Friedhof Père Lachaise beigesetzt. An der Trauerzeremonie nahmen neben ihrer Familie und zahlreichen Freunden auch die Botschafter Polens und Tschechiens teil. Die Russische Föderation entsandte keine offiziellen Vertreter.

Sergei Lukaschewski
bearbeitet von Chaya Sarkisova
Der Text wurde 2019 im Rahmen eines Seminars an der Universität Bremen unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa) bearbeitet.
Letzte Aktualisierung 03/20