Russland

Ljudmila Alexejewa

Ljudmila Alexejewa, 1927–2018

Ljudmila Alekseeva

Людмила Алексеева

Historikerin, Redakteurin, Menschenrechtlerin. Mitbegründerin und Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe. Autorin der ersten Monographie über die Dissidentenbewegung in der UdSSR.

Ljudmila Alexejewa wurde in Jewpatorija auf der Krim geboren. Mit ihrer Familie zog sie einige Jahre später nach Moskau. Ihre Mutter war Mathematikerin, ihr Vater Ökonom. Er fiel 1942 an der Front. Während des Zweiten Weltkriegs ließ sich Alexejewa zur Krankenschwester ausbilden und meldete sich freiwillig, wurde aber aufgrund ihres Alters nicht eingezogen. Sie war aktive Komsomolzin: Während der kriegsbedingten Evakuierung aus Moskau arbeitete sie als technische Sekretärin eines Bezirkskomitees in Kasachstan und nahm nach ihrer Rückkehr am Bau der Moskauer Metro teil.

1945 bis 1950 studierte Alexejewa Geschichte an der Moskauer Universität und arbeitete danach bis 1953 als Geschichtslehrerin in einer Berufsschule in Moskau. Gleichzeitig war sie Referentin des Gebietskomitees des Komsomol 1952 trat sie in die KPdSU ein. 1953 bis 1956 war Alexejewa Doktorandin am Moskauer Institut für Ökonomie und Statistik. Nach Stalins Tod 1953 erlebte Alexejewa eine Krise ihrer weltanschaulichen Überzeugungen: „Ich kam zu dem Schluss, dass sich eine Bande von Banditen an der Macht befindet.“ Sie entschied sich gegen eine feste Stelle beim Komsomol und verzichtete später auf die Verteidigung ihrer Doktorarbeit. Sie arbeitete dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Redaktion für Archäologie und Ethnographie des Verlags „Nauka“ (1959–68) und war Mitarbeiterin am Institut für wissenschaftliche Information der Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (1970–77).

Seit 1956 dienten ihre Wohnung – wie auch die ihrer Freunde, dem Ehepaar Boris Schragin und Natalia Sadomska – als Treffpunkt für Moskauer Intellektuelle und Ort der Aufbewahrung und Verteilung von Samisdat-Publikationen. Zwischen 1950 und 1960 lernte Alexejewa die späteren Dissidenten Alexander Jessenin-Wolpin, Juri Gastew (dessen Freund und Kollegen Nikolai Wiljams sie 1968 heiratete), Juli Daniel, Larissa Bogoras und Anatoli Jakobson kennen. Seit dem Prozess gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel (September 1965 bis Februar 1966) engagierte sich Alexejewa in der Menschenrechtsbewegung. Sie war Mitbegründerin des illegalen „Roten Kreuzes“, einer Initiative für die materielle Unterstützung politischer Häftlinge und deren Familien. Alexejewa beteiligte sich mit der Unterzeichnung und Sammlung von Unterschriften an der Petitionskampagne zur Unterstützung der Angeklagten im Prozess der Vier teil. Im April 1968 wurde sie dafür aus der KPdSU ausgeschlossen und verlor ihren Arbeitsplatz. 1968 bis 1972 war Alexejewa an der Herausgabe der „Chronik der laufenden Ereignisse“ beteiligt. Sie kopierte die Redaktionsexemplare und pflegte Kontakte mit den Korrespondenten der „Chronik“ in der Ukraine. Ihre Unterschrift ist unter vielen Appellen zur Verteidigung der Menschenrechte zwischen 1968 und 1975 zu finden. An der Vorbereitung einzelner Appelle war sie unmittelbar beteiligt. Wiederholt musste Alexejewa Durchsuchungen und Befragungen über sich ergehen lassen. Besonders intensiv wurde sie im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Pjotr Jakir und Wiktor Krassin (1973) verhört, machte aber nicht die vom KGB erwarteten Aussagen. 1974 wurde ihr auf Grundlage des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. Dezember 1972 eine Verwarnung wegen der „systematischen Anfertigung und Verbreitung antisowjetischer Texte“ ausgesprochen.

1975 und 1976 nahm Alexejewa jeweils am 30. Oktober in Moskau an den Pressekonferenzen anlässlich des Tags des politischen Häftlings in der UdSSR teil. Anfang 1976 war Alexejewa Mitbegründerin der von Juri Orlow initiierten Moskauer Helsinki-Gruppe und sagte zu, im Falle ihrer Emigration aus der UdSSR die Vertretung der Gruppe im Ausland zu übernehmen. Sie redigierte und verwahrte Texte der Gruppe, unterschrieb die ersten 19 offiziellen Dokumente und beteiligte sich an der Ausarbeitung des Dokuments Nr. 3 über die Haftbedingungen politischer Gefangener vom 17. Juni 1976. Im Auftrag der Moskauer Helsinki-Gruppe reiste Alexejewa zur Unterstützung verfolgter katholischer Geistlicher und Schüler nach Litauen. Auf der Grundlage der bei dieser Reise gesammelten Informationen verfertigte sie das – auch von Tomas Venclova, Mitglied der Litauischen Helsinki-Gruppe, unterzeichnete – Dokument Nr. 15 vom 8. Februar 1977. Am 9. Februar 1977 fand in ihrer Wohnung die letzte Pressekonferenz der Moskauer Helsinki-Gruppe vor der Verhaftung von Juri Orlow statt. Diese bildete den Startpunkt der nun folgenden Verfolgungswelle gegen die Helsinki-Gruppen in der UdSSR.

Ljudmila Alexejewa konnte am 22. Februar 1977 mit ihrer Familie die UdSSR verlassen und emigrierte in die USA. Sie übernahm die Vertretung der Moskauer Helsinki-Gruppe im Ausland und gab zwischen 1977 und 1984 alle Dokumente der Gruppe sowie eine Sammlung von Dokumenten zum Fall Juri Orlows heraus. Daneben war sie Beraterin verschiedener Menschenrechtsorganisationen, unter anderem beim Helsinki-Komitee der USA und das Institut der freien Gewerkschaften beim amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO. Seit 1977 leitete Alexejewa eine Radiosendung zur Lage der Menschenrechte bei Radio Liberty und Voice of America. Sie publizierte in den Zeitungen „Novoe Russkoe Slovo“, „Novosti“, „Russkaja Mysl“, in den Zeitschriften „Novyj Amerikanec“, „Kontinent“ und „SSSR. Vnutrennie Protivorečija“ sowie in der britischen und amerikanischen Presse. Von 1977 bis 1980 verfasste sie im Auftrag des Außenministeriums der USA auf der Grundlage umfangreichen Quellenmaterials eine Broschüre über unabhängige Bewegungen in der UdSSR. 1984 überarbeitete und erweiterte sie diese Version zu einer eigenen Monografie unter dem Titel „Istorija inakomyslija v SSSR. Novejšij period“ (Die Geschichte des Dissidententums in der UdSSRin heutiger Zeit). Das ein Jahr später auf Englisch erschienene Buch war die erste historische Arbeit zu diesem Thema. In Russland erschien das Werk 1992.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre nahm Alexejewa als Mitglied der US-amerikanischen Delegation an den KSZE-Konferenzen in Reykjavik und Paris teil. In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Journalisten Paul Goldberg brachte sie 1990 auf Englisch ihre Erinnerungen heraus.

1993 kehrte Alexejewa nach Russland zurück und engagierte sich unter anderem als Mitstreiterin von Memorial. Seit Mai 1996 war sie Leiterin der reaktivierten Moskauer Helsinki-Gruppe. Zwischen 1998 und 2004 war sie Präsidentin der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte. 2004 bis 2012 und 2015 bis 2018 Mitglied des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten. Unermüdlich klagte sie Menschenrechtsverletzungen an. Sie erhielt zahlreiche Preise und staatliche Auszeichnungen, darunter den Olof-Palme-Preis (2004), den Sacharow-Preis (2009), das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (2009), den Václav-Havel-Menschenrechtspreis (2015) und den Staatspreis der Russischen Föderation (2017).

Ljudmila Alexejewa starb am 8. Dezember 2018 in Moskau.

Dmitri Subarew, Gennadi Kusowkin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 11/18