Russland

Lew Kopelew

Lew Kopelew, 1912–97

Lev Zinov‘evič Kopelev

Лев Зиновьевич Копелев

Germanist, Schriftsteller, Humanist, Brückenbauer. Langjährige Lagerhaft unter Stalin, Publikationsverbot und Zwangsausbürgerung wegen dissidentischer Tätigkeit.

Lew Kopelew wurde am 9. April 1912 in Kiew geboren.  Er wuchs mit der deutschen Sprache auf, die er von seinem deutschen Kindermädchen lernte und mit seinem Bruder sprach, wenn die Eltern sie nicht verstehen sollten. Früh begeisterte er sich für den Kommunismus, wurde jedoch wiederholt wegen seiner Nähe zu trotzkistischen Ideen kritisiert und 1929 kurzzeitig inhaftiert. Nach Abschluss der Schule arbeitete er unter anderem als Redakteur der Werkszeitung im Lokomotivwerk Charkiw (Charkow). Mehrfach nahm er als kommunistischer Aktivist an Kampagnen der Zwangskollektivierung von Bauern teil.

1933 begann Kopelew ein Studium an der Universität in Charkiw, wo er Philosophie, Geschichte und Germanistik belegte. 1935 wurde er wegen seiner trotzkistischen Vergangenheit vom Studium ausgeschlossen. Kopelew zog nach Moskau und konnte am Institut für Fremdsprachen weiterstudieren. Nach dem Abschluss arbeitete er als Dozent und promovierte im Mai 1941 mit einer Arbeit über Schiller. Mit Kriegsbeginn meldete sich Kopelew freiwillig an die Front und wurde aufgrund seiner Sprachkenntnisse der Propagandaabteilung zugeteilt. Seine Hauptaufgabe bestand in der Agitation deutscher Soldaten, um sie zum Überlaufen zu bewegen.

Beim Vormarsch der sowjetischen Truppen nach Westen nahm Kopelew auch an den Kämpfen in Ostpreußen teil. Er kritisierte das brutale Vorgehen gegen die dortige Zivilbevölkerung. Seine offiziellen Eingaben dazu wurden ihm als „bürgerlicher Humanismus“ und „Mitleid mit dem Feind“ ausgelegt. Am 5. April 1945 wurde Kopelew verhaftet und nach Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR zu zehn Jahren Lagerhaft mit anschließender Aberkennung seiner Bürgerrechte für weitere fünf Jahre verurteilt. Es begann für ihn eine prägende Zeit der Gefängnis- und Lageraufenthalte in der Sowjetunion. Kopelew lernte hier den Schriftsteller Alexander Solschenizyn und andere Intellektuelle kennen, die aufgrund ihrer Meinungen vom sowjetischen Staat verfolgt wurden. Nach Stalins Tod kam er 1954 frei und wurde zwei Jahre später rehabilitiert. 1981 schrieb Kopelew in seiner Autobiographie über die Jahre 1947–54: „Nie wieder werde ich einem Götzen dienen, nie wieder höheren Menschen gehorchen, um derentwillen man die Wahrheit verbergen, andere und sich selbst betrügen, Andersdenkende verfluchen oder verfolgen muss.“

1956 heiratete Kopelew in zweiter Ehe Raissa Orlowa und fand eine Stelle an der Moskauer Universität in der Abteilung für Kunstgeschichte. Trotz Misshandlungen und Ungerechtigkeit, die ihm während seiner Lagerzeit begegnet waren, behielt er seinen Lebensmut und Glauben an die Menschheit. Seine Erfahrungen spornten ihn an, sich für Recht und Freiheit des menschlichen Individuums einzusetzen.

1962 lernte Kopelew den deutschen Schriftsteller Heinrich Böll bei dessen Besuch in Moskau kennen. Dieses Treffen war der Beginn einer lebenslangen engen Freundschaft. Ähnlich verbunden war den Schriftstellern Juli Daniel und Andrei Sinjawski. Als diese 1966 Opfer eines Schauprozesses wurden (Prozess gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel), prangerte Kopelew die Willkür der sowjetischen Staatsmacht an. Immer wieder forderte er auch in den Folgejahren in Protestbriefen an staatliche Stellen die Freilassung intellektueller Weggefährten und wurde so zu einer zentralen Figur der sowjetischen Dissidentenbewegung. Nach seinem Protest gegen den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968 wurde Kopelew aus der Partei ausgeschlossen, verlor seine Stelle und erhielt später auch Publikationsverbot. Die Wohnung des Ehepaars Kopelew-Orlowa wurde zu einer wichtigen Anlaufstelle für Oppositionelle und ausländische Journalisten. Kopelews Arbeiten erschienen im Samisdat und Bücher von ihm wurden im Ausland publiziert. 1977 wurde Kopelew aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.

Im Herbst 1980 erhielten Kopelew und Raissa Orlowa die Genehmigung für eine Studienreise nach Westdeutschland, zu der sie Heinrich Böll und Marion Gräfin Dönhoff eingeladen hatten. Entgegen vorheriger Zusicherungen, in die Sowjetunion zurückkehren zu können, erreichte sie Anfang 1981 die Nachricht über ihre Ausbürgerung. Das Ehepaar Kopelew-Orlowa ließ sich in Köln nieder. In Deutschland arbeitete Kopelew als Schriftsteller und Wissenschaftler. Zentrales Thema seiner Bücher, wissenschaftlichen Projekte und Vorträge war das gegenseitige Verständnis und die Aussöhnung von Deutschen und Russen. Auch gegen die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten trat er weiterhin ein. Für sein Schaffen und sein Engagement wurde Kopelew vielfach ausgezeichnet.

1989 erhielten Kopelev und seine Frau erstmals wieder eine Genehmigung für eine Besuchsreise nach Moskau. Raissa Orlowa starb kurze Zeit nach ihrer Rückkehr. Für beide wurde die Aberkennung der sowjetischen Staatsbürgerschaft 1990 wieder aufgehoben.

Lew Kopelew lebte bis zu seinem Tod in Köln, wo er am 18. Juni 1997 starb. Er wurde neben seiner Frau auf dem Donskoi-Friedhof in Moskau beigesetzt.

David Vogel
Der Text entstand 2019 im Rahmen eines Seminars an der Universität Bremen unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa).
Letzte Aktualisierung 03/2020