Juri Orlow

Juri Orlow, 1924–2020

Jurij Fëdorovič Orlov

Юрий Фёдорович Орлов

Physiker, Menschenrechtler sowie Gründer und Leiter der Moskauer Helsinki-Gruppe. Politischer Häftling und Bürgerrechtsaktivist.

Juri Orlow ist Kind einer Arbeiterfamilie aus Moskau, wo er 1924 geboren wurde. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Waffenfabriken, 1944 wurde er in die Armee eingezogen und kam nach Abschluss der Artillerieschule als Leutnant an die Front. Schon während seiner Armeezeit wurde er Kandidat der KPdSU, 1948 dann Mitglied. 1946 wurde er aus der Armee entlassen, 1947–49 war Orlow Student des Moskauer Institutes für Physik und Technik, danach studierte er an der Physikalischen Fakultät der Moskauer Universität. Zwischen 1952 und 1956 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Laboratorium für Wärmetechnik des Ministeriums für Maschinenbau, später am Institut für theoretische und experimentelle Physik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Er spezialisierte sich auf dem Gebiet der Elementarphysik, schrieb und veröffentlichte seine Dissertation, ohne sie jedoch verteidigen zu können.

Schon seit Mitte der 40er Jahre entwickelte Orlow dank eigener Beobachtungen und unter dem Einfluss von Gesprächen mit Offizierskollegen in der Armee eine kritische Einstellung zum sowjetischen System. In der Armee zog er sogar in Betracht, sich an einem konspirativen Zirkel zu beteiligen. Nachdem er 1956 von der Geheimrede Chruschtschows und dessen Verurteilung des stalinistischen Systems auf dem XX. Parteitag der KPdSU erfahren hatte, wurde sich Orlow endgültig über den repressiven Charakter des Kommunismus im Klaren.

Kurz nach dem XX. Parteitag wurde aus Anlass von Chruschtschows Geheimrede eine Parteiversammlung in Orlows Labor einberufen. In seiner Stellungnahme bezeichnete Orlow Geheimpolizeichef Beria und Stalin als „mörderische Machthaber“ und forderte eine „Demokratie auf Basis des Sozialismus“. Andere Redner befürworteten seine Position. Ein vertraulicher Brief des ZK der KPdSU an die Parteiorganisationen befasste sich daraufhin eigens mit diesen „Exzessen gegen die Partei“. Am 21. April 1956 erschien ein Artikel darüber in der „Pravda“. Orlow und drei andere Teilnehmer der Diskussion wurden entlassen und aus der Partei ausgeschlossen. Um den entlassenen Kollegen zu helfen, sammelten die Physiker Geld. Mehrere Monate lang hatte Orlow keine Beschäftigung. Damals lernte er Walentin Turtschin kennen, mit dem er sich anfreundete.

Im August 1956 stellte Abram Alichanow, der Direktor des Institutes für theoretische und experimentelle Physik der Akademie der Wissenschaften der Armenischen Sowjetrepublik, Orlow in seiner Einrichtung ein. Während der folgenden 16 Jahre arbeitete und lebte Orlow in Eriwan. Dort verteidigte er 1958 seine Doktorarbeit und anschließend 1963 die Habilitation. 1968 wurde er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Armenischen Sowjetrepublik. 1972 kehrte Orlow nach Moskau zurück und nahm eine Stelle am Institut für Erdmagnetismus, Ionosphäre und Verbreitung von Radiowellen an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR an. Unter dem Einfluss der Pressekampagne gegen Andrei Sacharow wendete er sich im September 1973 wieder dem gesellschaftlichen Engagement zu. Er richtete einen offenen Brief an Parteichef Leonid Breschnew unter der Überschrift „Die Gründe der intellektuellen Rückständigkeit der UdSSR und Vorschläge zu ihrer Überwindung“ (O pričinach intellektual‘nogo otstavanija SSSR i o predloženijach jego preodolenija), der auch als „13 Fragen an Breschnew“ (Trinadcat‘ voprosov Brežnevu) bekannt wurde. Orlow schlug darin eine Lockerung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft vor und verlangte die Demokratisierung des politischen Lebens. Sein Appell verbreitete sich im Samisdat und er lernte sehr schnell eine ganze Reihe der Moskauer Dissidenten kennen. Im Oktober 1973 gründete er zusammen mit Walentin Turtschin und Andrei Twerdochlebow die Sowjetische Sektion von Amnesty International.

Anfang 1974 wurde Orlow abermals entlassen und musste sich fortan seinen Lebensunterhalt mit Nachhilfestunden verdienen. Er beteiligte sich an den Kampagnen zur Verteidigung von Alexander Solschenizyn, Alexander Woronel, Juri Gastew, Parujr Hajrikjan, Wladimir Ossipow, Sergei Kowaljow, Andrej Twerdochlebow, Mustafa Dschmilew, Andrei Sacharow und Leonid Pljuschtsch. Am 30. Oktober 1974 nahm er an der Pressekonferenz aus Anlass des Tages des politischen Häftlings in der UdSSR teil. Er organisierte in seiner Wohnung Seminare für Wissenschaftler, die aus politischen Gründen aus ihrer Arbeit gedrängt worden waren.

In seinem im Dezember 1975 im Samisdat erschienenen Artikel „Ist ein nichttotalitärer Sozialismus möglich?“ (Vozmožen li socializm nie totalitarnogo tipa?) entwickelte er das „Konzept eines Sozialismus mit dezentralisierter, individueller wirtschaftlicher und politischer Selbstständigkeit ohne Privateigentum“ und war der Überzeugung, dass für den damaligen Zeitpunkt die Entwicklung einer „ethischen, antitotalitären Bewegung“ am wichtigsten sei.

Nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki diskutierte Orlow mit einigen Bekannten, darunter Andrei Amalrik und Natan Scharanski, die Idee, in den Unterzeichnerländern der Helsinki-Akte nationale Komitees zu gründen, die unabhängig von den Staatsorganen die Umsetzung der Bestimmungen im Bereich der Menschenrechte kontrollieren sollten. Am 12. Mai 1976 wurde in der Wohnung von Andrei Sacharow die Gründung der „Öffentlichen Gruppe zur Förderung der Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki in der UdSSR“ (Moskauer Helsinki-Gruppe) mit Orlow als Vorsitzendem bekannt gegeben. Andrei Amalrik erinnert sich daran wie folgt: „Orlow erwies sich als ausgezeichnete Führungspersönlichkeit. Er tolerierte andere Ansichten und war in der Lage, Menschen zu vereinen, ohne ihnen einen fremden Willen aufzuzwingen. Die Helsinki-Gruppe wurde zum Bindeglied für verschiedene Strömungen innerhalb der Opposition – von den Menschenrechtlern bis hin zur nationalen und ökonomischen Opposition – und verband außerdem die Intelligenz und die Arbeiter. Gleichzeitig drängte sie den Westen dazu, auf Verstöße der sowjetischen Regierung gegen die Helsinki-Beschlüsse zu reagieren.“

Dmitri Subarew, Gennadi Kusowkin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 09/20