Andrei Sacharow

Andrei Sacharow, 1921–89

Andrej Dmitrievič Sacharov

Андрей Дмитриевич Сахаров

In einer ausführlichen Notiz, die im Januar 1977 an das ZK gesandt wurde und die einen detaillierten Plan zur Zerschlagung oppositioneller Organisationen enthielt – an erster Stelle wurden die Helsinki-Gruppen genannt –, kehrte Andropow zu dieser Idee zurück. Dieses Mal schlug er vor, Sacharow keine Wahl zu lassen und ihn zwangsweise aus Moskau zu verbannen. Dieser Plan wurde erst Anfang 1980 in die Tat umgesetzt. Am 8. Januar 1980 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets ein Dekret mit der Anordnung, Sacharow alle staatlichen Auszeichnungen abzuerkennen und ein zweites Dekret über seine Ausweisung aus Moskau. Das erste Dekret wurde in den „Nachrichten des Obersten Sowjets der UdSSR“ veröffentlicht, das zweite blieb bis 1996 geheim.

Am 22. Januar 1980 informierte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Sacharow, dass die Entscheidung gefallen sei, ihn in die Stadt Gorki (heute wieder Nischni Nowgorod) umzusiedeln, um seine Kontakte mit ausländischen Staatsbürgern zu unterbinden. Gleichzeitig wurde die Erlaubnis erteilt, dass ihn seine Frau begleiten könne. Am nächsten Tag gab die sowjetische Presse die Nachricht über die Ausweisung Sacharows aus Moskau und die Aberkennung seiner staatlichen Auszeichnungen bekannt.

In Gorki lebte Sacharow de facto in Verbannung: Er wurde überwacht, durfte die Stadt nicht verlassen und weder mit sogenannten „kriminellen Elementen“ noch mit ausländischen Staatsbürgern Kontakt pflegen, die jedoch in einer geschlossenen Stadt wie Gorki ohnehin nicht anzutreffen waren. Sacharow bekam eine kleine Wohnung in einem Haus am Stadtrand zugewiesen, in dessen Treppenaufgang ein Polizeiposten aufgestellt wurde. Der Zutritt zur Wohnung wurde nur mit Erlaubnis des KGB gestattet. Von Sacharows Bekannten vor Ort wurden nur drei zu ihm vorgelassen. Von Zeit zu Zeit kamen dagegen Personen zu Besuch, die Sacharow ihre „Entrüstung“ über seine „antisowjetischen Tätigkeiten“ zum Ausdruck bringen sollten. Aus Moskau konnten Sacharows Kollegen aus der Theoretischen Abteilung des Institutes für Physik der Akademie der Wissenschaften anreisen, aber jede dieser Delegationen musste mit dem KGB abgestimmt werden. Besuche anderer Gäste aus Moskau wurden nur in Ausnahmefällen zugelassen.

Die einzige Person, durch die Sacharow noch mit Moskau in Verbindung stand, war seine Frau Jelena Bonner. Sie wurde jedoch im Mai 1984 wegen „Herabwürdigung der sowjetischen Ordnung“ nach Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR angeklagt und zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Als Verbannungsort wurde ebenfalls Gorki festgelegt. Dadurch blieben die Sacharows bis Ende 1985 praktisch von der Welt abgeschnitten.

Zum Schweigen konnte die Verbannung Sacharow jedoch nicht bringen. Die Jahre zwischen 1980 und 1986 waren vor allem von intensiver Arbeit auf dem Feld der theoretischen Physik, aber auch vom Kampf um die Rechte seiner Angehörigen und seiner eigenen Person, vom Einsatz für weltpolitische Anliegen und vom Engagement für Verfolgte geprägt.

Sacharow versuchte, die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu überzeugen, sich für seine Verteidigung einzusetzen. Das Schweigen seiner Kollegen belastete ihn als Symbol für fehlendes gesellschaftliches Verantwortungsgefühl der Menschen. Erst später zeigte sich, dass seine Bemühungen trotz allem erfolgreich waren. Einige Physiker hatten sich für ihn eingesetzt oder zumindest auf seine Situation aufmerksam gemacht. Allerdings taten sie das privat, ohne ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. So wandte sich Professor Pjotr Kapiza 1980 und 1981 schriftlich an die Staatsführung mit der Forderung, Sacharows Situation zu erleichtern. Auch der Leiter des Theoretischen Physikinstituts, Witali Ginsburg, und andere Mitarbeiter setzten sich für Sacharow ein.

Dramatische Formen hatte mittlerweile auch die Lage von Sacharows Angehörigen angenommen. Schon zu Beginn von Sacharows öffentlichem Engagement versuchte man ihn zu erpressen, indem man die Kinder von Jelena Bonner aus erster Ehe, Alexei Semonow und Tatjana Semonowa-Jankelewitschs, den Mann von Tatjana Semonowa-Jankelewitsch, Jefrem Jankelewitsch, sowie die Kinder aus dieser Ehe bedrohte. Sie wurden mit ständigen anonymen Drohungen und behördlichen Zwangsmaßnahmen unter Druck gesetzt, von Hochschulen relegiert und mit fingierten Strafverfahren bedroht. Schließlich waren die Familie Jankelewitsch 1977 und Alexei Semjonow 1978 zur Emigration gezwungen.

Die Lage von Elisaweta Alexejewna, der Verlobten von Alexei Semjonow, die keine Erlaubnis zur Ausreise erhielt, bereitete Sacharow in den ersten Jahren seiner Verbannung die größten Sorgen. Eineinhalb Jahre lang bemühte sich Sacharow um die Genehmigung ihrer Ausreise. Nachdem diese Versuche zu nichts geführt hatten, trat Sacharow vom 22. November bis 8. Dezember 1981 in den Hungerstreik. Dieser Schritt zeigte Wirkung und Elisaweta Alexejewna erhielt die Erlaubnis, die UdSSR zu verlassen.

Die drei folgenden Hungerstreiks vom 2. bis 27. Mai 1984, vom 16. April bis 11. Juli 1985 und vom 25. Juli bis 22. Oktober 1985 trat Sacharow an, um für seine Frau, die im Frühjahr 1984 einen Herzinfarkt erlitten hatte, eine Genehmigung zur Ausreise ins Ausland für eine ärztlichen Behandlung zu erzwingen. Die Hungerstreiks endeten mit einem Erfolg. Jelena Bonner verbrachte sechs Monate in den USA, wo sie sich einer Operation unterzog. Ihre Verbannung wurde für diese Frist ausgesetzt. Nur durch diese dramatische Vorgehensweise gelang es Sacharow, die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben seiner Ehefrau zu retten und gleichzeitig die Informationsblockade zu durchbrechen.

Sacharow verfasste in Gorki mehrere Texte über gesellschaftspolitische Themen. Zu den wichtigsten zählte ein an den UN-Generalsekretär und die Mitglieder des Sicherheitsrates gerichteter Plan für die friedliche Beilegung des Afghanistan-Konfliktes vom Juli 1980 und der Artikel „Die Gefahr eines thermonuklearen Kriegs“ (Opasnost‘ termojadernoj vojny“). Mit diesem Artikel vom Februar 1983 ging Sacharow ausführlich auf die Rede des amerikanischen Physikers Sidney Drell über die katastrophalen Konsequenzen eines thermonuklearen Krieges ein. Sacharow stimmte Drell in der Bewertung der zerstörerischen Folgen eines Atombombeneinsatzes zu und hielt die Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichtes von Ost und West mit konventionellen Waffen ebenfalls für eine Grundvoraussetzung für die beidseitige Reduktion des Atomwaffenarsenals. Dagegen lehnte er die Reihenfolge der Prioritäten ab, welche die sowjetische Seite ihren Partnern bei den Verhandlungen aufzwingen wollte. Sacharow orientierte sich in seiner Argumentation faktisch an der gleichen Idee, die ihn 1948 zur Arbeit an der Wasserstoffbombe motivierte hatte: die Idee des Gleichgewichts der Kräfte als Schlüsselfaktor für die Verhinderung einer globalen Katastrophe. Darüber hinaus betonte er, dass man es nicht zu einer „moralischen Abrüstung“ des Westens und einseitigen Zugeständnissen unter sowjetischem Druck kommen lassen dürfe, weil dies die Gefahr eines Krieges vergrößere. Schließlich wies er noch darauf hin, dass expansionistische Tendenzen der sowjetischen Politik, der Mangel an Freiheit und freiem Informationsaustausch in der Gesellschaft wesentliche Gefahrenquellen darstellten.

In der sowjetischen Presse wurde Sacharow anschließend sofort als Kriegshetzer und Agent des Weltimperialismus hingestellt. Auch an dieser Kampagne nahmen – ähnlich wie 1973 – Kollegen Sacharows von der Akademie der Wissenschaften teil. Zeitgleich erreichte eine Pressekampagne gegen Jelena Bonner ihren Höhepunkt. Man stellte sie als „dämonische Frau“ mit verhängnisvollem Einfluss auf das „Akademiemitglied Sacharow“ sowie als „zionistische Agentin“ dar, die angeblich auf Sacharow angesetzt worden wäre, um ihn zu manipulieren.

Auch in Gorki setzte sich Sacharow mehrfach für Personen ein, die für ihre politischen Ansichten verfolgt wurden. Am 20. Februar 1986 wandte er sich brieflich an Michail Gorbatschow und rief den sowjetischen Staats- und Parteichef dazu auf, „die Freilassung aller nach Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR, nach Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR und nach Artikel 142 Strafgesetzbuch der RSFSR verurteilten politischen Häftlinge“ zu ermöglichen. Gleiches sollte für Personen gelten, die nach den entsprechenden Artikeln anderer Sowjetrepubliken verurteilt worden waren. Außerdem sollten diejenigen freigelassen werden, die wegen ihrer Überzeugungen in psychiatrische Krankenhäuser zwangseingewiesen oder aufgrund gefälschter Anklagen verurteilt worden waren. Sacharow listete die Namen von mehreren Dutzend Gefangenen auf.

Während der Verbannung setzte Sacharow die bereits in Moskau begonnene Arbeit an seinen Lebenserinnerungen fort. Das Manuskript der „Erinnerungen“ (Vospominanija) war zwei Mal – am 13. März 1981 und am 11. Oktober 1982 – gestohlen worden. Längere Textteile wurden am 7. Dezember 1982 bei Jelena Bonner konfisziert, als sie bei einer ihrer Fahrten nach Moskau festgenommen und durchsucht wurde. Trotz des vierfachen Verlustes des Manuskripts – die früheste Fassung war schon im November 1978 bei einer heimlichen Durchsuchung der Wohnung Sacharows verloren gegangen – konnte Sacharow seine „Erinnerungen“, die den Zeitraum bis November 1983 umfassten, abschließen. Nach der Rückkehr aus der Verbannung verfasste Sacharow unter dem Titel „Moskau, Gorki und dann überall“ (Moskwa–Gorki, dalee wezde) ein weiteres Buch mit Erinnerungen an die Zeit von Juli 1985 bis August 1989, das zusammen mit Jelena Bonners Erinnerungsband „Postskriptum an die Ereignisse zwischen Februar 1983 und April 1986“ eine Art Einheit bildete.

Alexander Daniel
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 02/16