Andrei Sacharow

Andrei Sacharow, 1921–89

Andrej Dmitrievič Sacharov

Андрей Дмитриевич Сахаров

Physiker und Konstrukteur der Wasserstoffbombe. Verteidiger der Menschenrechte, Autor des Memorandums „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ und anderer politischer Manifeste. Vordenker der sowjetischen Dissidentenbewegung und während der Perestroika führende Persönlichkeit der demokratischen Opposition.

Andrei Sacharow kam 1921 in einer Familie der Moskauer Intelligenz zur Welt. Sein Vater war Pädagoge und Verfasser von Lehr- und populärwissenschaftlichen Büchern zur Physik. 1942 beendete Andrei Sacharow sein Physikstudium an der Moskauer Universität. 1942–47 arbeitete er als Ingenieur in einer Militärfabrik in Uljanowsk und machte mehrere Erfindungen auf dem Gebiet der Kontroll- und Messtechnik. 1945–47 absolvierte er ein Doktorandenstudium am Institut für Physik der Akademie der Wissenschaften, wo er sich auch an der wissenschaftlichen Arbeit des Seminars der Theoretischen Abteilung beteiligte, die von Igor Tamm geleitet wurde. Dort begann Sacharow, sich mit Kern- und Elementarteilchenphysik zu beschäftigen. Im November 1947 verteidigte er seine Doktorarbeit und blieb bis zum Ende seines Lebens Mitarbeiter der Theoretischen Abteilung.

Im Sommer 1948 wurde Andrei Sacharow Mitglied einer Arbeitsgruppe, die unter der Leitung von Igor Tamm mit der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beschäftigt war. Ab Anfang 1949 widmete er sich auf Empfehlung der Regierung vollständig der Militärforschung. Im März 1950 zog er von Moskau in die geschlossene Stadt „Arsamas 16“. Die im Gorki-Gebiet gelegene und zum Ministerium für Maschinenbau gehörende Spezialsiedlung war das Zentrum des sowjetischen Atombombenbaus und trägt heute den Namen Sarow. Sacharow war dort einer der wissenschaftlichen Leiter des Programmes für den Wasserstoffbombenbau, womit er fortan zur wissenschaftlich-technischen Elite der UdSSR gehörte und Zugang zu den höchsten Kreisen der herrschenden Partei- und Staatselite erhielt. Er konnte direkt mit den Partei- und Regierungschefs verkehren und wurde zu den Sitzungen des Präsidiums des ZK der KPdSU eingeladen, wenn es um den Atombombenbau ging.

Auch wissenschaftlich machte Sacharow eine rasante Karriere. Im Juni 1953 habilitierte er sich auf dem Gebiet der Physik und Mathematik und wurde im Oktober jüngstes Vollmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Drei Mal wurde Andrei Sacharow mit dem Titel „Held der Sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet. 1953 erhielt er den Stalin- und 1956 den Leninpreis.

In den 50er Jahren befasste sich Sacharow mit der kontrollierten Kernfusion, in der er den Schlüssel zur Bewältigung ungelöster Menschheitsprobleme sah. Gemeinsam mit Igor Tamm entwickelte er die Konzeption für eine kontrollierte thermonukleare Reaktion: die sogenannte Tokamak-Anordnung. Nachdem er wegen angeblicher „Illoyalität“ von dieser unter Geheimhaltung stehenden Tätigkeit entbunden wurde, kehrte Sacharow im Sommer 1968 nach Moskau zurück und setzte seine Arbeit am Institut für Physik der Akademie der Wissenschaften fort. Er befasste sich mit Grundproblemen der theoretischen Physik und legte 1969 eine Erklärung für die Baryonenasymmetrie, ein Schlüsselphänomen der Kosmologie, vor. Er entwickelte ein neues „mehrdimensionales Modell“ des Weltraums (1970), eine neue Theorie der Gravitation (1975), eine Hypothese zur Zeitumkehr (1980) sowie eine wichtige Ergänzung zur String-Theorie (1984).

Anfänglich stand das Interesse Sacharows an gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Problemen im Zusammenhang mit seinem Beruf. Um 1950 beteiligte er sich am Protest gegen eine Kampagne, die sich gegen die vermeintlich „idealistische Physik“ Albert Einsteins richtete. In der Presse waren Artikel erschienen, in denen die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik auf der Grundlage des dialektischen Materialismus angeblich widerlegt worden waren. Akademiemitglied Wladimir Fok schrieb daraufhin einen Artikel zur Verteidigung der modernen Physik, dessen Erscheinen jedoch verhindert wurde. Am 24. Juni 1953 richteten elf führende Physiker des sowjetischen Nuklearprogramms – darunter Sacharow – ein Schreiben an Lawrenti Berija, der das Programm beaufsichtigte. Die Intervention war erfolgreich, Foks Artikel konnte in der Zeitschrift „Voprosy Filosofii“ (Fragen der Philosophie; Nr. 1/1953) veröffentlicht werden, und die Presseattacken gegen Relativitätstheorie und Quantenmechanik brachen ab.

Sacharow sah seine Mitarbeit an der Wasserstoffbombe nicht nur als patriotische Pflicht, sondern auch als Dienst für die Menschheit und als Beitrag zur Verhinderung eines Dritten Weltkrieges. Jahre später schrieb er in seinen Erinnerungen: „Natürlich war ich mir darüber im Klaren, mit welchen schrecklichen, unmenschlichen Sachen wir uns beschäftigten. Doch der Krieg war noch nicht lange vorbei, und er war ebenfalls unmenschlich gewesen! In jenem Krieg war ich kein Soldat, aber nun fühlte ich mich als Soldat des wissenschaftlich-technischen Krieges. […] Mit der Zeit hörten wir von Begriffen wie strategisches Gleichgewicht, gegenseitige thermonukleare Abschreckung usw. oder kamen selbst auf diese. Auch jetzt noch denke ich, dass in diesen Ideen tatsächlich eine – wenn auch nicht vollständig überzeugende – intellektuelle Rechtfertigung für den Bau der Wasserstoffbombe und unserer Beteiligung liegt.“

Mitte der 50er Jahre wurde Sacharow und anderen Kernphysikern immer stärker bewusst, dass der Preis, den die Menschheit für die Sicherheit des nuklearen Gleichgewichts bezahlt, die globale Verseuchung durch radioaktive Zerfallsprodukte ist, die nach jeder Atomexplosion in der Atmosphäre oder unter Wasser zurückbleiben. Besonders beunruhigten ihn die biologischen Folgen der Verstrahlung. Sacharows Berechnungen zufolge konnten Atomtests in der Atmosphäre hunderttausende vorzeitige Todesfälle oder schwere Erkrankungen verursachen, von denen nicht nur gegenwärtige sondern auch zukünftige Generationen bedroht waren. Deshalb veröffentlichte er 1958 und 1959 im Zusammenhang mit Chruschtschows Initiative zur Begrenzung der Kernwaffentests zwei Artikel zu diesem Thema. 1961 protestierte Sacharow gegen die Verletzung des Kernwaffenteststoppabkommens durch die UdSSR und ließ sich dabei auf einen Streit direkt mit Chruschtschow ein, der ihn daraufhin öffentlich für „Einmischung in die Politik“ rügte.

Im Herbst 1962 protestierte Sacharow scharf gegen Pläne, zwei große Nukleartests in der Atmosphäre durchzuführen, die weder durch technische noch durch politische Erfordernisse gerechtfertigt wären. Er verlangte die Beschränkung auf nur eine Zündung, aber Chruschtschow ignorierte seine Proteste. Am 26. September explodierte über der Nordpolarinsel Nowaja Semlja die zweite, ausgerechnet unter Sacharows Leitung gebaute Atombombe. In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: „Dieses furchtbare Verbrechen wurde verübt und ich konnte es nicht verhindern. Mich überwältigte ein Gefühl von Machtlosigkeit, Verbitterung, Scham und Erniedrigung. Ich stürzte mit dem Gesicht auf den Tisch und weinte. Das war sicher die schlimmste Lektion, die ich in meinem Leben erhalten habe: Man kann auf zwei Stühlen nicht sitzen. Ich entschied mich, von nun an meine Anstrengungen vor allem darauf zu konzentrieren, dass die Pläne für einen Atomteststopp in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser verwirklicht werden […].“

Seine Idee präsentierte Sacharow der Regierung als Ausweg aus der Sackgasse, in der sich die Genfer Atomteststopp-Verhandlungen befanden. Er schlug vor, sich auf das Verbot von Versuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser zu beschränken, da diese für das Leben und die Gesundheit am gefährlichsten seien. Die vergleichsweise unschädlichen unterirdischen Tests sollten zugelassen werden, wenn kein vollständiger Verzicht erreicht werden könne. Dieser Kompromissvorschlag erwies sich als erfolgreich. 1963 unterzeichneten die UdSSR, Großbritannien und die USA den Moskauer Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Später trat die Mehrzahl der Staaten diesem Abkommen bei.

Die Öffentlichkeit wusste damals nichts von der Rolle, die Sacharow bei dem Zustandekommen des Abkommens gespielt hatte. Selbst der Name des unter Geheimhaltung arbeitenden Nuklearphysikers war weder in der UdSSR noch im Ausland bekannt.

Registriert wurde hingegen sein Engagement im Juni 1964, als er sich am Protest gegen den Gegner der modernen Genetik Nikolai Nuschdin beteiligte, der als Vollmitglied in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen werden sollte. Nuschdin war Mitarbeiter des von Stalin protegierten und von Chruschtschow gestützten Trofim Lyssenko. Diese Episode mit Nuschdin brachte Sacharow einen gewissen Bekanntheitsgrad ein. Sein Name wurde nun im Zusammenhang mit anderen großen Physikern genannt, die kritische Geister in dringenden Angelegenheiten um Unterstützung bitten konnten.

Seit Anfang der 60er Jahre verbrachte Sacharow immer mehr Zeit in Moskau. Der Kreis seiner Bekannten erweiterte sich und Moskauer Intellektuelle stießen dazu, die mit der entstehenden Dissidentenbewegung verbunden waren. Darunter befanden sich der bekannte Publizist Ernst Henry alias Leonid Chentow (Autor eines offenen Briefes an den Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der einer der bekanntesten antistalinistischen Samisdat-Texte war), der Biologe Schores Medwedew (Autor des im Samisdat zirkulierenden Textes „Über die Lage in der biologischen Wissenschaft“/O položenii w biologičeskoj nauke, der eine wichtige Rolle in der Kampagne gegen die ideologisch begründete Pseudowissenschaft des „Lyssenkoismus“ spielte) sowie sein Bruder, der Historiker Roi Medwedew, der Physiker Jurij Schywluk und andere.

Alexander Daniel
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 02/16