Bausoldat, nach politischer Haft Engagement in christlichen und marxistischen Oppositionsgruppen, im Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde, in der Gruppe „Gegenstimmen“ und der Kirche von Unten, 1989 eines der Gründungsmitglieder des Neues Forums, Abgeordneter am Zentralen Runden Tisch, Mitorganisator der Demonstration vor der Berliner Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990, erneute Besetzung der Stasi-Zentrale zur Durchsetzung der Aktenöffnung.

Ende der 90er Jahre lebte Reinhard Schult zusammen mit seiner Freundin und zwei Kindern in Fredersdorf bei Gramzow, einem winzigen Dorf in der Uckermark. Dort stand er an fünf Abenden in der Woche hinter dem Tresen der Gaststätte „Zur Linde“ und ließ sich von den Kneipenbesuchern erzählen, was es Neues im Ort gibt. Die Bauern hatten schnell Zutrauen zu dem Neuankömmling aus der Stadt gewonnen und ihn bei der Kommunalwahl 1998 zum stellvertretenden Bürgermeister der 140 Einwohner zählenden Gemeinde gewählt. Neben dieser ehrenamtlichen Tätigkeit kümmerte er sich auf seinem Hof um das Federvieh und die Schafe, baute Gemüse und Obst an und widmete sich der Ausbesserung seines rund 200 Jahre alten Fachwerkhauses. Wer ihn in Arbeitskluft zwischen Hühnerstall und Gemüsebeet sah, mag an einen verbannten Volkstribunen oder an Kaiser Diokletian gedacht haben, der sich angewidert vom sittenlosen Treiben der Römer nach Dalmatien zurückzog, um dort Melonen zu züchten.

Doch wer Schult für einen resignierten Aussteiger hält, hat nichts vom Wesen der DDR-Opposition begriffen. Niemals ging es da um Posten und Karrieren. Im Grunde ging es nicht einmal um Politik im engen Sinne des Wortes, sondern um Verweigerung und Selbstachtung. „Die Opposition in der DDR war eine kleine Opposition“, schrieb Reinhard Schult rückblickend im Jahre 1995. „Fast kannte jeder jeden. Die Hoffnung, das SED-Regime zu stürzen, hatte niemand von uns. Es ging um etwas mehr Luft in dieser miefigen DDR, um etwas mehr Bewegungsfreiheit in der Zwangsjacke. Wir waren eine verschwindende Minderheit – ohne Rückhalt in der Bevölkerung.“ Und Reinhard Schult gehört zum Urgestein jener DDR-Opposition, die sich seit den 70er Jahren im Schutzraum der Evangelischen Kirchen sammelte.

Der Konflikt mit der DDR-Obrigkeit war für den 1951 in Berlin geborenen Reinhard Schult von frühester Kindheit an selbstverständlich. Seine Mutter war Krankenschwester im Krankenhaus Berlin-Kaulsdorf. In dem östlichen Randbezirk von Berlin wohnte auch die Familie. Als die Mauer gebaut wurde, saßen sie bereits auf gepackten Koffern, um in den Westen zu gehen. Sie hatten schon die Flugkarten von West-Berlin in die Bundesrepublik gekauft. Dann schlug die Falle zu und es wurden lange Zeit Pläne geschmiedet, wie man doch noch in den Westen kommen könnte. Es gab dort eine zahlreiche Verwandtschaft und schon in der Schule galt Reinhard Schult als „westlich eingestellt“. Er las lieber verbotene Micky-Maus-Hefte als die Pionierzeitschrift „Trommel“.

Der lange Abschied von der Staatsideologie, die Brüche und Konflikte mit dem Elternhaus und die qualvolle Lösung aus den Armen der Partei, die für viele kritische DDR-Intellektuelle so typisch waren, blieben Schult erspart. In der Jungen Gemeinde in Berlin-Mahlsdorf fand er einen verständnisvollen Pfarrer, der eine interessante Jugendarbeit machte. Schult überzeugte die ganze Klasse einschließlich des FDJ-Sekretärs, geschlossen zu einer Kirchenveranstaltung zu gehen und löste damit den ersten Skandal seiner Laufbahn aus. In der zwölften Klasse trat er aus der FDJ aus und verweigerte bei der Musterung den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA). Doch an der Betriebsberufsschule des Wohnungsbaukombinats in Berlin-Oberschöneweide wurde wohl manches nicht so verbissen gesehen wie an einer Erweiterten Oberschule. Immerhin konnte Schult 1971 dort neben der Facharbeiterprüfung als Maurer das Abitur ablegen. Danach begann er ein Studium der Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin. Nach einigen Monaten erkannte er, auch hier am falschen Ort zu sein. Mittlerweile junger Familienvater, ging er auf den Bau, wo man für damalige Verhältnisse ganz gut verdiente.

1976 wurde Schult für 18 Monate als Bausoldat eingezogen. Nach seiner Rückkehr begann er, in oppositionellen Zirkeln und Gruppen tätig zu werden. Er trat mit Freunden in Kirchen auf, wo sie Lieder und Texte von Wolf Biermann, Reiner Kunze und anderen Schriftstellern vortrugen. 1979 wurde ein Bekannter beim Versuch, die DDR zu verlassen, verhaftet. Beim Stasi-Verhör beschuldigte dieser seinen Freund, in die Fluchtvorbereitungen eingeweiht gewesen zu sein, woraufhin Schult am 13. August 1979 unter dem Vorwurf der Beihilfe zur Republikflucht verhaftet wurde. Vor Gericht nahm sein Bekannter die belastenden Aussagen zurück, sodass dem wutentbrannten Staatsanwalt nur noch der Anklagepunkt „Öffentliche Herabwürdigung“ blieb. Wegen einer Ausgabe der Zeitschrift „Roter Morgen“ der westdeutschen KPD/ML und Texten von Wolf Biermann wurde Schult zu neun Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Weniger konnte man ihm nicht geben, weil er diese Zeit schon in Untersuchungshaft abgesessen hatte.

Bei seiner Haftentlassung wurde ihm bedeutet, dass ein Ausreiseantrag gute Chancen hätte, schnell genehmigt zu werden. Doch nun wollte Schult nicht mehr. Er stürzte sich in das damals aufblühende Treiben der Friedens- und Umweltgruppen, nahm 1980 an dem Friedensseminar in Königswalde teil, organisierte Diskussionsforen ehemaliger Bausoldaten, auf denen für die Verweigerung des Dienstes an der Waffe geworben wurde, arbeitete im Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde mit, bildete einen Diskussionskreis zur Geschichte der KPD und einen Karl-Marx-Kreis. Ab 1985 war er in der Gruppe „Gegenstimmen“, seit 1987 in der Kirche von Unten (KvU). Die unbekümmerte Mixtur von christlichen und linksradikalen Ideologiefragmenten gehörte zum Erscheinungsbild der Opposition jener Jahre. Der Gestus war hier wichtiger als die theoretische Stringenz.

Am 7. Mai 1989 beteiligte er sich aktiv an der landesweiten Organisation der Aufdeckung der Wahlfälschung. Am 9. September schließlich gehörte er zu den 29 Erstunterzeichnern des Aufrufs „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Im Neuen Forum versuchte er in den folgenden Monaten die basisdemokratischen Ideale hochzuhalten. Durch die Fernsehübertragungen der Sitzungen des Zentralen Runden Tisches und zahlreiche andere öffentliche Auftritte wurde er im ganzen Land bekannt. Stets mürrisch und schlecht gelaunt brachte er im Berliner Proletenslang die Dinge auf den Punkt und zerstörte das Harmoniegesäusel der alten Obrigkeit.

Am 15. Januar 1990 gehörte er zu den Organisatoren der Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Ruschestraße, die mit der Besetzung des Gebäudekomplexes durch Demonstranten endete. In den folgenden Monaten vertrat er das Neue Forum in der Arbeitsgruppe Sicherheit, welche die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) kontrollierte. Nach der freien Volkskammerwahl im März 1990 und der Einsetzung eines Staatlichen Komitees für die Auflösung der Staatssicherheit unter der Dienstaufsicht des neuen Innenministers Peter-Michael Diestel bildete Schult eine eigene Gruppe innerhalb der Behörde, die den Geist der Bürgerkomitees aufrechtzuerhalten suchte.

In den Monaten bis zur staatlichen Vereinigung zeichnete sich in der Frage des Umgangs mit den Hinterlassenschaften der DDR-Staatssicherheit eine Symbiose zwischen dem Beamtenapparat aus dem Westen und den alten DDR-Seilschaften ab. Leute wie Schult störten diese neue Eintracht. Und er tat es gründlich. Als der Plan des Bundesinnenministers bekannt wurde, die Archive des MfS ins Bundesarchiv nach Koblenz zu überführen und dort unter Verschluss zu halten, besetzten Schult und seine Gruppe symbolisch einige Räume des Archivs der Staatssicherheit. Die Polizei riegelte das Gelände ab und bereitete sich zum Sturm vor. Wieder standen die Oppositionellen gegen die Staatsmacht. Es waren die alten Uniformen und die alten Kader, nur dass sie inzwischen unter dem Befehl des CDU-Innenministers Diestel standen. Ein Besuch der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl am Ort des Geschehens entspannte die Situation. Die Besetzer traten nun in den Hungerstreik, um den Verbleib der Akten in der DDR durchzusetzen. Als die Volkskammer über diese Frage debattierte, erschienen Schult und einige Freunde im Plenarsaal. Unrasiert und gezeichnet vom Hungerstreik stand er im Blitzlichtgewitter. Unter dem Druck dieser Aktionen beschloss das DDR-Parlament den Verbleib der Akten in Berlin und die Einsetzung eines Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Die Bürgerbewegung erzielte damit einen letzten großen Erfolg.

Schult wurde am 2. Dezember 1990 auf der Liste von Bündnis ‘90/Die Grünen ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Doch der Kreis der DDR-Bürgerrechtler war klein geworden und schmolz weiter zusammen. Sie trennten sich von der Fraktion und bildeten eine Abgeordnetengruppe mit dem Namen „Neues Forum/Bürgerbewegung“. Nach dem Ende der Legislaturperiode 1995 wurde Schult arbeitslos, meldete sich schließlich beim Sozialamt. Für Rebellen gibt es keine Versorgungsansprüche. Schult hat das immer gewusst und sich nie darüber beklagt.

Von einem Rückzug aus der Politik will er auch heute nichts wissen. Schult kümmert sich um rechtsradikale Jugendliche, schreibt gelegentlich in Zeitungen, ist in den Medien präsent, zog zwischenzeitlich auch in ein anderes Dorf nahe Bernau bei Berlin, um abermals einen neuen Hof aufzubauen. Er ist Mitglied des Arbeitsausschusses des Neuen Forums Berlin und arbeitet heute bei der Brandenburger Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAkD), Ulrike Poppe, in der Bürgerberatung. Dass die einstige Volksbewegung nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, ficht ihn dabei wenig an. Wo er ist, ist das Volk – auch wenn er ganz allein ist.

Für sein Engagement wurde Reinhard Schult 2000 mit dem Deutschen Nationalpreis und 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Er starb nach langer schwerer Krankheit am 25. September 2021.

Stefan Wolle
Letzte Aktualisierung: 09/21