Das am 10. Januar 1951 in Olbernhau von der 22. Strafkammer des Landgerichts Dresden gegen Hermann Joseph Flade verkündete Todesurteil galt einem 18-jährigen Oberschüler, der allein, ohne Mitstreiter, mit handgedruckten Flugzetteln gegen die Volkskammer-Scheinwahlen vom Oktober 1950 protestiert hatte und sich der Festnahme mit einem Taschenmesser zu erwehren suchte. Der Richterspruch entfachte einen solchen Sturm der Entrüstung gegen die SED-Diktatur, dass sich die Herrschenden zu einer Revision des Terrorurteils genötigt sahen. Zudem motivierte das Urteil andere Oberschüler, wie beispielsweise Achim Beyer und seine Mitschüler aus Werdau, ihren Widerstand zu verstärken.

Um das Urteil zu begreifen, muss ein historisches Datum in der Geschichte der SED-Diktatur ins Bewusstsein gerückt werden: der 15. Oktober 1950. Dies war der Tag, an dem erstmals in der DDR Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen nach dem Grundsatz einer Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front durchgeführt wurden. Sie beließen dem Wahlvolk keine alternative Entscheidung. Sämtliche Abgeordneten-Mandate waren lange vor dem Wahltag auf die SED und die unter ihrer Hegemonie geduldeten Blockparteien und Massenorganisationen aufgeschlüsselt, und zwar dergestalt, dass Kommunisten in allen Vertretungskörperschaften über die absolute Mehrheit verfügten. Der Wahlakt selbst war zur bloßen Abgabe der Stimmzettel verkommen. Zugleich waren mit der Scheinwahl vom 15. Oktober 1950 alle folgenden Wahlen präjudiziert. Freie Wahlen wurden in der DDR erstmals möglich, als ihre Endzeit schon begonnen hatte: am 18. März 1990. Vor diesem historischen Hintergrund erklärt sich Flades Handeln.

Hermann Joseph Flade – sein Rufname war Hermann – kam am 22. Mai 1932 als uneheliches Kind in Würzburg zur Welt. 1936 heiratete seine Mutter den Expedienten Erich Flade. Die Familie wurde in Olbernhau im Erzgebirge ansässig. 1938 wurde Hermann Flade, der im katholischen Glauben erzogen wurde, in die Grundschule aufgenommen. Nachdem die Familie 1942 nach Dresden übergesiedelt war, besuchte er hier die Oberschule. Nach dem verheerenden Luftangriff anglo-amerikanischer Bomber auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, den Mutter und Sohn unverletzt überstanden, kehrten beide nach Olbernhau zurück, wo Flade den Besuch der Oberschule fortsetzte. Der Vater musste inzwischen Kriegsdienst leisten und kam in Gefangenschaft.

Als die Familie in finanzielle Not geriet, ließ sich Flade im Oktober 1949 für ein Jahr vom Schulbesuch beurlauben, um als Hauer im Uranerzbergbau der sowjeteigenen Wismut-AG in Marienberg im Erzgebirge zu arbeiten. Das war Knochenarbeit unter Tage, aber sie wurde gut bezahlt. Erst als er im April 1950 einen Arbeitsunfall erlitt, gab Flade die Arbeit im Uranschacht auf und suchte sich eine Beschäftigung als Ziegeleiarbeiter. Ab Oktober 1950 wollte er wieder das Gymnasium in Olbernhau besuchen.

In dieser Situation erlebte der politisch frühzeitig interessierte Oberschüler die Wahlkampagne zum 15. Oktober 1950. Sie empörte ihn. Der Entschluss zum Widerstand reifte spontan. Allein, ohne Austausch mit anderen Menschen, entwarf er Texte für handgedruckte Flugzettel, auf denen er sein Nein gegen die Scheinwahlen artikulierte. Er verfertigte sie mit Hilfe eines Schüler-Druckkastens und verteilte annähernd 200 Exemplare bei Dunkelheit in seiner Heimatstadt.

Während er bei seiner ersten Flugblauaktion noch unbemerkt blieb, wurde er bei der zweiten am späten Abend des 14. Oktober – am Vorabend der Wahl – von einer Doppelstreife der Volkspolizei „auf frischer Tat“ ertappt. Nach einem Handgemenge, bei dem er ein Messer zog und einem der beiden Volkspolizisten mehrere, allerdings nicht lebensgefährliche Stiche am linken Oberarm und im Rücken beibrachte, konnte er sich seiner Festnahme zwar noch entziehen, wurde aber zwei Tage später festgenommen.

Es folgten Verhöre beim Staatssicherheitsdienst. Flade legte schon am 19. Oktober 1950 laut Vernehmungsprotokoll ein Geständnis ab. Offen bekannte er sich zu seiner politischen Einstellung. „Die Flugblattverteilung geschah von mir aufgrund der politischen Erkenntnis, dass man die DDR und ihre Organe passiv und aktiv bekämpfen muss.“ Ein solches Bekenntnis zur eigenen Tat forderte die Herrschenden offen heraus. Ein abschreckendes Urteil musste her. Zuständig waren die Staatsanwaltschaft und das Landgericht in Dresden, aber das Strafgericht erster Instanz tagte in Olbernhau, die Hauptverhandlung fand im größten Saal des Ortes statt, in der Gaststätte „Tivoli“. Etwa 1.200 Zuschauer, Arbeiter, Bergleute, Oberschüler und Parteigänger der SED, meist „delegiert“, waren zugegen. Zum Verdruss des Gerichts zeigte sich der Angeklagte ungebeugt. „Ich sagte mir, bei einer Wahl müsste auch eine andere Stimme gehört werden, da ich das nicht offen machen konnte, weil ich sonst von der Schule fliegen würde, musste ich das nachts im Geheimen tun“, zitiert ihn das offizielle Protokoll der Gerichtsverhandlung. „Ich habe hundertprozentig auf die Gerechtigkeit meiner Sache vertraut.“

Am 10. Januar 1951 gegen 16.30 Uhr verkündete der Vorsitzende Richter folgendes Urteil: „Im Namen des Volkes! Der Angeklagte Flade wird für schuldig befunden der Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen und in Tateinheit damit des Betreibens militaristischer Propaganda, des versuchten Mordes und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und wird zur Strafe des Todes kostenpflichtig verurteilt.“

In der DDR wie in West-Berlin und Westdeutschland löste das Urteil bis dahin nicht erlebte öffentliche Proteste aus. Unter deren Eindruck sah sich das Gericht zweiter Instanz am 19. Januar 1951 zur Revision des Todesurteils genötigt und wandelte die Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren um.

Als er zwei Drittel seiner 15-jährigen Zuchthausstrafe hinter den Mauern von Bautzen, Torgau und Waldheim verbüßt hatte, wurde Flade „amnestiert.“

Natürlich verließ er danach die DDR. Trotz zehnjähriger Haft ungebrochen, studierte er an den Universitäten München und Mainz, promovierte 1967 mit dem Thema „Politische Theorie in der abendländischen Kultur“ und schrieb sein Erlebnisbuch „Deutsche gegen Deutsche“. Zuletzt arbeitete er im Gesamtdeutschen Institut in Bonn. In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1980 erlag Hermann Flade den gesundheitlichen Spätfolgen seiner Haft wenige Tage vor seinem 48. Geburtstag.

Karl Wilhelm Fricke
Letzte Aktualisierung: 08/16