„Bis zur 8. Klasse war ich sozialistisches Musterkind, FDJ-Gruppenratsvorsitzende, trug brav mein Blauhemd. Mit 15 wurde ich aufmüpfig. Erst stritt ich mit meiner Mutter, einer Lehrerin, dann mit Lehrern, kam ohne FDJ-Hemd zur Schule.“ Das war kein politisches, das war pubertäres Aufbegehren nach dem Motto: „Ist mir doch egal“, mit kleinem politischen Einschlag. „Irgendwie hielt ich die Erwachsenenwelt für krank und scheinheilig. Meine Mutter wurde zum Direktor bestellt. Sie litt darunter; schließlich war sie auch Lehrerin, aber mit Problemen in der DDR-Volksbildung.“ Sie kam nicht damit klar, dass Pfarrerskinder oft nicht auf die Oberschule durften und Lehrer Vierzehnjährige überreden mussten, sich „freiwillig“ zur DDR-Armee zu melden. Die Mutter verließ in den 80er Jahren gegen erhebliche Widerstände die Schule und war – in der DDR! – erst mal arbeitslos.

Evelyn Zupke, 1962 in Binz auf Rügen geboren, versucht nachzuvollziehen, wie sie in die DDR-Opposition kam, in die Bürgerrechtsbewegung. Die Mutter flüchtete 1945 mit den Eltern aus Königsberg auf die Ostseeinsel. Den Vater lernte sie nie kennen. Die heile kommunistische Welt, in der sie aufwuchs – ohne Westfernsehen, ohne Westradio, ohne Westverwandte –, konnte so heil nicht sein, sie merkte es an der Mutter und auch am Großvater. Sah er „Aktuelle Kamera“ – die „Tagesschau“ der DDR –, sagte er, kaum waren SED-Größen zu sehen: „Verbrecher sind das“. Da waren ihre Onkel, „reisefähige“ Artisten – der Mauerstaat verdiente an den Devisen. Sie brachten, versteckt in Hohlräumen ihrer Wagen, seitenweise das Buch des Regimekritikers Rudolf Bahro „Die Alternative“ in die DDR. Für dessen Weitergabe wurden damals Leute bestraft.

Ein Schüler sollte von der Schule fliegen: er hatte sich nach einer „Rotlichtbestrahlung“ „freiwillig“ verpflichtet, Offizier zu werden, es sich aber anders überlegt. Die Mitschüler sollten den Schulverweis bestätigen. Selbst die besten Freunde hoben die Hand. Nur zwei wagten das Nein, eine Mitschülerin und Evelyn Zupke. Der Schüler entschied sich um und durfte bleiben.

Das Abitur schaffte sie trotz Aufmüpfigkeit mit einer Zwei. Ein Lehrer sagte ihr, die Bewerbung zum Studium sei zwecklos. „Zum Studium ungeeignet,“ stehe in ihrer Akte. Schlimm fand sie das nicht. Mit 18 hatte sie genug vom DDR-Bildungssystem. „Ich wollte nur noch raus aus allem, was Bildung zum sozialistischen Staatsbürger hieß; ein Studium gehörte dazu.“ Sie heuerte beim Feriendienst der Gewerkschaft an. Um die Gastronomie kümmerte sich die Partei weniger. Sie wurde Kellnerin, Eisverkäuferin („mit Eisschein“), Büfettier (für manche Berufe vom Büfettier bis zum Minister kannte das DDR-Deutsch keine weibliche Form). Die Leitung schlug sie bald zum Studium vor; da zahlte der Betrieb die Kosten. „Delegiert“ wurde eine, die schnell in die SED eintrat. Trete sie ein, sei sie nächstes Mal dran. „... und tschüs“, kommentiert Zupke das Ansinnen: „Hätte ich nie gemacht!“

Richtig verscherzte sie es sich mit ihren Vorgesetzten 1984. Da wollten ihr Freund (sie hat ihn bald geheiratet) und sie das „Kasperletheater DDR-Wahl“ nicht mitmachen. „Zettelfalten“ hieß Wählen im Volksmund: Kam der Stimmzettel „gefaltet“ in die Wahlurne, also ohne Kreuz, war die Stimme gültig. Um 99,5 % Wahlbeteiligung, um 99,5 % für die Einheitsliste, lautete stets das Ergebnis. Nachdem der Chef sie am Morgen des Wahltags am Büfett nicht umstimmen konnte, änderte sich das Klima. Kollegen grüßten nicht mehr. Die eher nachlässige Hygienekontrolle schaute ihr täglich auf die Finger. Sie war auf dem Weg zum Staatsfeind. Zumal sich beide noch der Kirche zuwandten. So fragten sie beim Diakonischen Werk Bethanien in Anklam nach Arbeit: ihr Mann als Handwerker für alles, sie als Erzieherin schwerbehinderter Kinder. Auf die Wahl zur Volkskammer zwei Jahre später verzichteten sie auch; kirchlichen Mitarbeitern drohten keine Folgen.

Die Ehe zerbrach. Evelyn Zupke ging 1987 ohne Mann, aber mit Kind und Kegel nach Berlin. In der Stephanusstiftung der Diakonie Berlin-Weißensee arbeitete sie mit behinderten Kindern, wohnte dort auch, suchte Kontakt zum Weißenseer Friedenskreis, eine der oppositionellen Gruppen, die in der DDR Mitte der 80er Jahre entstanden waren. Jetzt kannte sie Leute, die so dachten wie sie. Ihre Wohnung wurde schnell ein Treffpunkt, auch weil sie auf Kirchengelände lag.

Im Friedenskreis kam die Idee auf, nachzuweisen, dass der SED-Staat selbst das Ergebnis der Scheinwahlen fälsche. Ziemlich jeder wusste, dass es so war. Wer nicht zur Wahl ging, hörte am Sonntag Wahlhelfer an der Tür und bei Nachbarn klingeln. Dennoch meldete die DDR Wahlbeteiligungen über 99 %. Offenbar nutzten auch mehr Leute die Wahlkabine als es hinterher Neinstimmen gab. Wahlhelfer erzählten, allein in ihrem Wahllokal sei das festgestellte Ergebnis erheblich schlechter gewesen als das offiziell verkündete für den ganzen Stadtbezirk. Wie aber war der Wahlbetrug nachzuweisen? Die DDR gab nur Wahlergebnisse von ganzen Ortschaften oder Stadtteilen bekannt, nie die von Wahllokalen. Also musste man alle Ergebnisse im Stadtbezirk feststellen und zusammenzählen. Am 7. Mai 1989 stand die nächste „Wahl“ an.

Evelyn Zupke machte sich mit anderen an die Organisation. Im Gemeinde-Zentrum kündigte sie das Vorhaben an. Sie suchten Freiwillige, die im Wahllokal das offiziell festgestellte Ergebnis notieren und abliefern sollten. Es meldeten sich viele, sicheres Indiz, dass in großen Teilen der Bevölkerung Unmut herrschte über die Wahl ohne Wahl. Andere Ostblockstaaten wie Polen, Ungarn, die Sowjetunion wählten schon anders: KPdSU-Chef Michail Gorbatschow ließ sich ablichten, wie er den Vorhang der Wahlkabine zuzieht. Der Friedenskreis schickte in jedes Wahllokal zwei Beobachter.

Es war schon schwierig, die Wahllokale zu finden. Die DDR hielt selbst diese geheim. Nachfragen im Rathaus halfen nicht. Zupke erinnert den Dialog: „Können Sie mir bitte eine Liste der Wahllokale im Stadtbezirk geben?“ – „Wozu brauchen Sie die?“ – „Es ist ein Bürgerrecht, zu erfahren, wo Wahllokale sind.“ – „Von mir bekommen Sie die nicht!“ Mühsam beschaffte die Gruppe sie sich doch, bis auf das Lokal in der Kunsthochschule. Am Wahlabend war es das mit den meisten Gegenstimmen, über fünfzig Prozent.

Die Idee aus Weißensee, die Wahl ad absurdum zu führen, hatten andere Gruppen nicht grade toll gefunden. Am Ende beteiligten sich viele Gruppen in Berlin, aber auch in Leipzig, Dresden, Erfurt und Rostock. In Leipzig verbrannten am Wahlabend mehrere Hundert junge Leute ihre Benachrichtigung und zeigten: Wir waren nicht wählen.

Die Auszählung hatten sie straff organisiert: Die Beobachter brachten die Ergebnisse auf Karteikarten in Zupkes Wohnung. Stasileute standen vor dem Haus, hielten aber keinen an. Der Stasieinsatz war so groß, dass der Leiter der Stephanussiftung die eifrigen Zähler des Hauses verwies. Im Auftrag der Kirchenleitung hatte er Zupke schon im Vorfeld abhalten wollen, die Wahlbeobachtung in ihrer Wohnung zu organisieren. So fuhren sie, alle notierten Einzelergebnisse im Auto, zum Begründer des Friedenskreises Mario Schatta. Zupke: „Die Stasi immer hinterher. Dass sie nicht zugriffen, verstehe ich bis heute nicht“.

Am späteren Abend ging es in die Elisabethkirche in Berlin-Mitte. Dort war der Treffpunkt für Beobachter aus Prenzlauer Berg, Mitte, Pankow und Friedrichshain. Unter großem Jubel verkündeten sie das fast vollständige Ergebnis für Weißensee: „2.156 mal Nein.“ Alle wussten: So viele Gegenstimmen würde die SED nicht zugeben. 1.011 waren es dann offiziell. Mehr als die Hälfte der Neinstimmen wurden unterschlagen. Anderswo war es ähnlich.

Wahlfälschung stand auch in der DDR unter Strafe. Mitglieder vieler Oppositionsgruppen, auch Zupke, stellten deshalb auf vom Friedenskreis vorbereiteten „Formularen“ Strafantrag. Vergeblich. Ein Staatsanwalt zu ihr: „Die Wahrheit steht im ‚Neuen Deutschland‘.“ Urteile wegen Wahlfälschung gab es als Folge der Anzeigen erst nach dem Ende der DDR.

Im Friedenskreis wollte man den Betrug nicht hinnehmen. „Mündige Bürger“ (Zupke: „Das waren wir!“) riefen immer am 7. des Monats um 17 Uhr zum Protest (Motto: „Nie genug vom Wahlbetrug“): am 7. Juni in der Sophienkirche; am 7. Juli auf dem Alexanderplatz; am 7. August in der Hoffnungskirche; am 7. September erneut auf dem Alex. Intern galt der Weißenseer Friedenskreis seitdem als „ein bisschen verrückt“. Mit der Demonstration auf dem Alexanderplatz verließen sie bewusst den Schutzraum Kirche, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Pfarrer Rudi Pahnke wollte sie Anfang Juli umstimmen: Unter dem Slogan „Keine Gewalt“ demonstriere man, was sie auf dem Alex vorhätten – „das klingt mir noch heute in den Ohren“ – sei „Gewalt mit der Zunge“.

Am 7. September ging die Stasi auf dem Alex offen und ziemlich brutal gegen die Demonstranten wegen Wahlbetrugs vor. Es wehte offenkundig ein anderer Wind. Der nächste 7. war der vierzigste Jahrestag der DDR-Gründung, Feiertag, DDR-Geburtstag, wie Kinder in der Schule lernten. Auch im Friedenskreis gab es – verständliche – Angst, ob man am 7. Oktober überhaupt zu Protesten aufrufen dürfe, noch dazu auf dem Alexanderplatz. Es könnte ein heißer Tag werden. Nur Zupke und Mitstreiter Frank Pfeiffer waren anfangs dafür, aber sie setzten sich durch. Das hieß: Demo zwischen Tausenden feiernden Leuten.

Erst behelligte die DDR-Polizei die Demonstranten kaum. Einige Feiernde machten mit. Dann erscholl der Ruf: „Zum Palast“. Im „Palast der Republik“ feierte die Staatsführung mit Gorbatschow und den Ostblockoberen, auch westliche Diplomaten darunter. (Der KPdSU-Chef hatte am Nachmittag den Satz gesagt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“) Die Polizei drängte schließlich die Demonstranten zum Alex ab. Vom Palast weit weg, schlug sie brutal zu und nahm viele fest.

Weil Evelyn Zupke und ihre Mitstreiter auf der Demonstration am 7. Oktober auf dem Alexanderplatz beharrten, gehören sie heute mit zu den Mutigen der DDR-Revolution, sind Vorbilder für Zivilcourage. Die Brutalität trieb Hunderten Verhafteten den letzten Glauben an „eine im Grunde doch humane DDR“ aus: „Wie ich dazu gekommen bin? So genau weiß ich das gar nicht. Ich war plötzlich mittendrin! So ist das Leben.“ 2001 überreichte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) Evelyn Zupke den Verdienstorden des Landes Berlin.

Evelyn Zupke ist auch auf dem Zeitzeugenportal der Bundesstiftung Aufarbeitung vertreten.

Karl-Heinz Baum
Letzte Aktualisierung: 12/16