Politiker und Politikwissenschaftler. Führender Vertreter der tschechischen Linken und Mitautor des reformorientierten „Aktionsprogramms“ der KPČ im Prager Frühling. Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung Charta 77.

Zdeněk Mlynář wurde 1930 im mährischen Vysoké Mýto (Hohenmaut) geboren. Sein Vater Hubert Müller (1945 ließ er den Familiennamen in die tschechische Form Mlynář ändern) war Berufsoffizier. Aus diesem Grund wechselte die Familie häufig den Wohnort und lebte die meiste Zeit in slowakischen Garnisonsstädten. Während des Zweiten Weltkrieges ging Mlynář auf ein Gymnasium im Prager Stadtteil Žižkov, wo er 1949 das Abitur ablegte. 1946 trat er gemeinsam mit der Familie in die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPČ) ein.

Nach dem Abitur ging Mlynář zum Jurastudium nach Moskau, wo er sich an der Lomonossow-Universität mit Michail Gorbatschow anfreundete. Nach seiner Rückkehr 1955 in die Tschechoslowakei heiratete er Rita Budínová, die Tochter Stanislav Budínás, des ehemaligen Chefredakteurs des Zentralorgans der KPČ „Rudé právo“ (Rotes Recht). 1955–56 arbeite Mlynář bei der Generalstaatsanwaltschaft und danach bis 1968 am Institut für Staats- und Rechtswissenschaften der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Seine dort betriebenen Forschungen wurden zum theoretischen Grundstock des späteren Reformprozesses.

In den 60er Jahren stieg er weiter in der Kommunistischen Partei auf. Er war mehrere Jahre Parteisekretär im Rechtsausschuss des Zentralkomitees, im Januar 1968 wurde er Sekretär im Zentralkomitee der KPČ und danach Mitglied des Parteipräsidiums, dem obersten Führungsgremium der Partei. Während des Prager Frühlings stand Mlynář auf Seiten der Reformer und war unter anderem Mitautor des reformorientierten Aktionsprogramms der Kommunistischen Partei, das im April 1968 beschlossen wurde und den Übergang zu einem demokratischen Sozialismus vorsah.

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei wurden er und andere hohe Parteifunktionäre der KPČ nach Moskau beordert, wo sie an den Verhandlungen mit der sowjetischen Parteiführung teilnahmen. Die Erlebnisse dieser Tage beschrieb er 1978 in seinem Buch „Nachtfrost. Das Ende des Prager Frühlings“ (Mráz přichází z Kremlu):

„Dass ich jetzt in Moskau saß, teils als Geisel, teils als Staatsgast, war eine logische Folge meines ganzen Lebens, meiner eigenen politischen Tätigkeit. Ich hatte mich selbst in diese Situation gebracht. Entscheidend dafür war eigentlich nicht der 20. August 1968, sondern der 25. Februar 1948. Denn damals schloss ich mich aus eigenem Entschluss und eigener Überzeugung denjenigen an, die ebenfalls aus eigener Entscheidung sich Moskau und seinen Zielen ‚auf ewige Zeiten‘ untergeordnet hatten. Es war gegenwärtig unwesentlich, warum ich es und warum es die anderen getan hatten, ob die Ansichten und Ideale, die dahinter standen, gut gemeint waren oder nicht. Es war geschehen, und aus meinem eigenen freien Entschluss. Allerdings wusste ich jetzt seit über zehn Jahren, dass Moskau der Sitz des Verbrechens war und dass ich dem nicht mehr dienen wollte. Was tat ich aber? Ich wollte das bei uns, in der Tschechoslowakei, durch Reformen ändern und hoffte zugleich, dass auch in Moskau der aufrichtige Wille bestand, mit dem Verbrechen Schluss zu machen, und dass sie mir deshalb meine Reformen hier erlauben würden. Ich hatte gewiss auch Gründe dafür, aber gleichzeitig gab es bereits seit Jahren schwerwiegende Gründe für eine ganz entgegengesetzte Auffassung; ich unterschätzte oder übersah sie jedoch, denn sie passten nicht in mein reformkommunistisches Konzept.“ (Nach der deutschen Ausgabe, Athenäum-Verlag Frankfurt am Main, 1988)

Im Oktober 1968 verzichtete Mlynář auf alle seine Ämter in der Partei und wurde 1970 aus der Partei ausgeschlossen. Von 1968 bis 1977 war er in der entomologischen Abteilung des Nationalmuseums in Prag angestellt, Insekten hatten ihn schon seit seiner Kindheit fasziniert. Er nahm an Diskussionen ehemaliger kommunistischer Parteimitglieder teil, die dem Eurokommunismus nahe standen. Nach Abschluss der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 war er einer der Initiatoren des Zusammenschlusses aller Oppositionsgruppen, was zur Entstehung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 führte. Mlynář gehörte zum inneren Gründerkreis der Charta 77 und war einer der ersten Unterzeichner. Nach der Veröffentlichung der Petition der Charta 77 im Januar 1977 verlor er seine Arbeit und emigrierte im Mai auf Druck der Staatssicherheit nach Österreich.


Im Ausland nahm er an soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschungsprojekten teil, unterrichtete an der Bremer Universität und arbeitete seit 1982 am Wiener Institut für Internationale Politik. 1985 wurde er Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Er publizierte regelmäßig in österreichischen Medien und in tschechoslowakischen Exilzeitschriften, vor allem in der sozialistischen Monatszeitschrift „Listy“ (Briefe).

Während der Samtenen Revolution kehrte er Ende 1989 nach Prag zurück, blieb aber ohne Einfluss auf das Bürgerforum (Občanské fórum; OF). Von seinem sozialistischen Standpunkt aus kritisierte er wiederholt die politischen Veränderungen nach dem Umbruch 1989 und wurde im Juni 1995 Ehrenvorsitzender des dem demokratischen Sozialismus verschriebenen Linken Blocks (Levý blok; LB). Im Herbst desselben Jahres klagte die Behörde für die Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus (Úřad dokumentace a vyšetřování zločinů komunismu; ÚDV), dessen Leiter Václav Benda zu diesem Zeitpunkt war, Mlynář für seine Teilnahme an den Verhandlungen im Kreml 1968 wegen Staatsverrates an. Die Anklage wurde allerdings wieder zurückgezogen.

1997 starb Zdeněk Mlynář in Wien an Lungenkrebs.

Sein Sohn Vladimír (geboren 1966) engagierte sich zu kommunistischer Zeit in der Dissidentenbewegung und war nach 1989 Journalist, 1999–2001 stellvertretender Vorsitzender der liberal-konservativen Partei Freiheitsunion – Demokratische Union (Unie svobody – Demokratická unie) und mehrmals Minister in verschiedenen Regierungen.

Petr Pospíchal
Aus dem Polnischen von Jonas Grygier
Letzte Aktualisierung: 05/15