Russland

Alexander Galitsch

Alexander Galitsch, 1918–77

Aleksandr Arkad’evič Galič

Александр Аркадьевич Галич

Dichter und Liedermacher, Dramaturg und Drehbuchautor. Sein ursprünglicher Familienname lautete Ginsburg.

Alexander Galitsch wurde 1918 als Kind einer Beamtenfamilie in Jekatarinoslaw, dem heutigen Dnipropetrowsk in der Ukraine geboren, lebte aber seit seiner Kindheit in Moskau. Als Schüler gehörte einem Lyrikkreis von Eduard Bagrizki an. 1935–38 lernte er Schauspiel am Studio des Moskauer Künstlertheaters (MChAT), das von Konstantin Stanislawski geleitet wurde. Parallel dazu studierte er mehrere Jahre an der Fakultät für Poesie des Gorki-Literatur-Instituts. 1940 und 1941 beteiligte er sich unter der Leitung von Alexei Arbusow und Valentina Plutschka an der Inszenierung des Stückes „Gorod na zare“ (Stadt in der Dämmerung) – eine der herausragendsten Theateraufführungen in Moskau in der letzten Spielsaison vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete Galitsch an Fronttheatern.

Von 1946 bis 1968 wurden seine Stücke – zum Beispiel „Vas vyzyvaet Tejmyr“ (Tejmyr ruft Sie), „Parochod zovut ‚Orlënok’“ (Das Schiff heißt ‚Adlerjunge’), „Pochodnyj marš“ (Feldmarsch), „Pod ščastlivoj svezdoj“ (Unter glücklichem Stern) und „Budni i prazdniki“ (Werk- und Feiertage) an vielen sowjetischen Theatern aufgeführt. Galitsch wurde auch geschätzter Komödienautor, nach dessen Drehbüchern mehrere Filme entstanden, die sich in der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreuten. Die Aufführung seines 1956 fertiggestellten Stückes „Matrosskaja tišyna“ (Matrosenstille), dessen Bezeichnung auf den Namen einer Straße und eines Gefängnisses in Moskau zurückging und das am Moskauer Sovremennik-Theater inszeniert werden sollte, wurde 1957 jedoch von der Partei nach der Generalprobe verboten. Dies war der Auslöser für die schrittweise Entfremdung Galitschs von der offiziellen Ideologie.

1962 kam es im Leben und Schaffen Galitschs zu einem tiefen Einschnitt: Mit „Lenočka“ (Lena) begann sein erster Zyklus von auf Tonband aufgezeichneten Liedern. Der Literaturkritiker Stanislaw Rassadin beschreibt diesen neuen Lebensabschnitt Galitschs wie folgt: „Der erfolgreiche Filmemacher, Lustspielautor, Publikumsliebling, Bonvivant und Spötter wurde zum Liedermacher, der schnellen und gefährlichen Ruhm erlangte.“ Galitsch gehörte neben Bulat Okudschawa und Wladimir Wysotzki zu den Begründern einer neuen Gattung der russischen Literatur, dem mit Gitarrenbegleitung vorgetragenen Autorenlied. Die in stilistischer Hinsicht außergewöhnlich vielfältigen Lieder Galitschs, die alle Genres von der Tragödie bis hin zur Farce abdeckten, verband eine konsequente ideelle und politische Überzeugung. Sie forderten die herrschende Ideologie heraus und verteidigten die von ihr angegriffenen kulturellen und humanistischen Werte. Die „Magnitisdat“ genannten und privat mit Tonbandgeräten (Russisch „magnitofon“) aufgenommenen und verbreiteten Lieder erlangten vor allem innerhalb der Intelligenz an enormer Popularität. Einige Liedzeilen gingen sogar als Zitate in die Sprache der Dissidenten ein, wie beispielsweise die Ausdrücke „Ich wähle die Freiheit.“ oder „Bürger, das Vaterland ist in Gefahr, unsere Panzer stehen auf fremder Erde.“. Das Lied „Wir sind nicht schlechter als Horaz“ (My ne chuže Goracyja) wurde zu einer Hymne des Samisdat.

Im Unterschied zu anderen Liedermachern führte Galitsch seine Lieder fast ausschließlich in Privatwohnungen auf. Der Versuch eines öffentlichen Auftritts in dem Nowosibirsker Klub „Pod Calka“ endete mit einem großen Skandal und einer strengen Verwarnung des Moskauer Schriftstellerverbandes. Im Mai 1967 unterzeichnete Galitsch einen Brief von 80 Schriftstellern mit der Forderung, den Brief Alexander Solschenizyns zur Zensur auf dem IV. Schriftstellerkongress der UdSSR zu erörtern. Nach 1968 konnte Alexander Galitsch nicht mehr offiziell veröffentlichen.

Ab 1962 zirkulierten einzelne seiner Liedtexte im Samisdat. 1967 erschien im Untergrund die von Galitsch zusammengestellte Liedsammlung „Kniga pesen“ (Liederbuch), 1969 publizierte die Exilzeitschrift „Grani“ seine Gedichte und im selben Jahr erschien seine Sammlung „Pesni“ (Lieder) beim Posev-Verlag in Frankfurt am Main. Von den 60er bis in die 80er Jahre wurden Abschriften und Tonbänder seiner Lieder immer wieder bei Hausdurchsuchungen im ganzen Land konfisziert und deren Besitzer deswegen in politischen Prozessen vor Gericht gestellt.

1970 gab das Komitee für Menschenrechte in der UdSSR Galitsch als ihr „korrespondierendes Mitglied“ an. Er unterzeichnete eine Reihe von Dokumenten zur Verteidigung der Menschenrechte. Am 29. Dezember 1971 entzog ihm daraufhin die Leitung des Moskauer Schriftstellerverbandes nach dreitägigen Beratungen die Mitgliedschaft. Anfang 1972 wurde Galitsch ebenfalls aus der Schriftstellergewerkschaft „Litfond“ und der Gewerkschaft der Filmschaffenden ausgeschlossen. 1972 erschien im Frankfurter Posev-Verlag seine neue Gedichtsammlung „Pokolenie obrečonnych“ (Generation der Verdammten). Galitsch unterschrieb zu jener Zeit Appelle zur Verteidigung von Andrei Sacharow, Alexander Solschenizyn, Pablo Neruda und Gabriel Superfin.

Galitsch durfte nicht ins Ausland reisen, alle seine entsprechenden Bemühungen endeten mit Absagen. Schließlich entschied er sich für die Emigration und verließ die UdSSR am 25. Juni 1974 für immer. Kurz vor der Ausreise beendete er noch seinen autobiografischen Roman „Generalnaja repeticija“ (Generalprobe), in dem er am Beispiel seines Theaterstückes „Matrosenstille“ den Prozess der Befreiung von der sowjetischen Ideologie aufzeigte. Der Roman erschien 1974 im Posev-Verlag.

Galitsch lebte fortan in Norwegen, der Bundesrepublik Deutschland sowie in Frankreich. Er gab Konzerte in europäischen Ländern, den USA sowie Israel und hatte bei Radio Liberty eine regelmäßige Sendung mit dem Titel „Galitsch am Mikrofon“. Seine Gedichte und Lieder aus der Zeit von 1972 bis 1977 erschienen im 1977 vom Posev-Verlag herausgegebenen Buch „Kogda ja vernus‘“ (Wenn ich zurückkehre). Galitsch schrieb außerdem für die Zeitschriften „Grani“, „Kontinent“ und „Vremja i my“.

Alexander Galitsch erlag 1977 in Paris den Folgen eines Unfalls, bei dem er einen Stromschlag erlitt, und wurde auf dem Friedhof Sainte-Geneviève-des-Bois beigesetzt.

Dmitri Subarew, Gennadi Kusowkin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16