Der Thüringer Gemeindepfarrer prägte mit seiner „Offenen Arbeit“ ab den 60er Jahren mehrere Generationen von Jugendlichen in der DDR in ihrem solidarischen und widerständigen Engagement. Sein Wirkungskreis reichte weit über den Thüringer Raum hinaus. Er begleitete die „Kirche von Unten“ als Pfarrer des Vertrauens und gab Impulse für ein partizipatorisches Gemeindemodell.

Walter Schilling wurde am 28. Februar 1930 in Sonneberg im Süden Thüringens als Sohn eines Pfarrers geboren und wuchs im benachbarten Oberlind auf. Seine Eltern gehörten im Nationalsozialismus der Bekennenden Kirche an, weshalb sein Vater erst nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur 1945 Superintendent werden konnte. Bestand Walter Schillings Jugendtraum noch darin, Jagdflieger zu werden, entschloss er sich mit 17 Jahren, Pfarrer zu werden.

In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. in der DDR durfte Schilling zunächst nicht studieren und fand beim evangelischen Villigster Studienwerk eine Ausbildungsstätte. Hier erhielten Werkstudenten eine universale Bildung mit engem Bezug zur Arbeitswelt. Künftige Eliten sollten nicht wieder fern der Realität heranwachsen. Schilling arbeitete als Landwirtschaftsgehilfe in Westfalen und Bergarbeiter im Ruhrgebiet, was für seinen späteren Ansatz einer sozialen und praktischen Theologie prägend war. 1950–55 studierte er Theologie in Münster, Heidelberg und Jena und wirkte anschließend bis zu seiner Pensionierung als Gemeindepfarrer in Braunsdorf-Dittrichshütte in der Nähe von Saalfeld in Thüringen.

Seine Gemeinde wuchs bald über die kleinen 100-Seelen-Dörfer hinaus. Das hing mit dem offenen Jugendrüstzeitheim zusammen, das Schilling als Kreisjugendpfarrer ab 1959 mit seiner Frau Eva und der Jungen Gemeinde Rudolstadt ausbaute. Die vormaligen Stallgebäude am Braunsdorfer Pfarrhaus wurden zu einem Pilgerort unangepasster Jugendlicher aus allen Regionen der DDR. Ab 1968 fand hier die in der DDR proletarischer als in anderen Ländern geprägte Hippiebewegung offene Pforten. Studenten waren selten darunter, da unangepasste Jugendliche von der SED als „bildungsunwert“ ausgesondert wurden. Der Kreis der „Jünger der Offenen Arbeit“ entstand, ganz biblisch, aus den Ausgegrenzten.

Zuerst kamen Rudolstädter und Saalfelder Jugendliche, die einen Raum zum Hören ihrer Musik suchten, ohne dass gleich die Polizei einschritt. Brutale Übergriffe auf Langhaarige und deren gesellschaftliche Stigmatisierung gehörten in den 60er Jahren zum realsozialistischen Alltag. Solche Erfahrungen mit dem von den Jugendlichen als faschistoid empfundenen Polizeistaat politisierten zunehmend. Nach Braunsdorf konnte jeder kommen, egal mit welchem Outfit, und fand dort einen freien Artikulations- und Kommunikationsort, eine Insel im „roten Meer“, die in der von der SED normierten Welt Freiraum zur Selbstentfaltung bot. Schilling, selbst ein Jazz- und Bluesliebhaber mit langen Haaren, der starken Kaffee und starke Zigaretten liebte, lehnte Bekenntniszwang und Messianismus ab. Deshalb besuchten auch die atheistisch geprägten Jugendlichen seine Gottesdienste in der alten Dorfkirche, bei denen er praktische Erfahrungen aus dem Lebensumfeld der Jugendlichen mit Bibelworten zu verknüpfen wusste. In den Nächten am Kamin wurden bei Watzdorfer Bier über Zukunftsvisionen debattiert.

Zum gemeinsam gestalteten „Gottesdienst – mal anders“ im Herbst 1969 in Rudolstadt kamen 500 Besucher. Nachgespielte Musiktitel wie „I'm free“ oder „Paint it black“ trafen das Lebensgefühl der „Beat Generation“ und mussten, um die Zensur zu umgehen, als Spiritual oder Traditional ausgegeben werden. Verbotene Bands wie die Gruppe Medianas spielten in der Kirche. Schon der zweite Versuch in Saalfeld wurde jedoch behördlich untersagt. Das Wichtigste waren Authentizität, Selbstgestaltung und die gemeinsam durchlebten Konflikte. Schilling übersetzte das in der DDR missbrauchte Wort Solidarität mit „ganz dicht beieinander sein“, bei der Personalität eine Voraussetzung darstelle. Der Freiraum für Muße als menschlichem Grundbedürfnis und Entfaltungsbedingung von Personalität war eine der Stärken der Offenen Arbeit.

Statt paternalistisch Kirche „für“ andere zu sein, sollte ein „Miteinander“ möglich gemacht werden, was sich vom Ansatz traditioneller Sozialdiakonie unterschied und von Kirchenleitungen und Gemeinden beargwöhnt wurde. Diese neue Jugendarbeit, zunächst in Zella-Mehlis (Jürgen Hauskeller), Leipzig (Claus-Jürgen Wizisla), Jena (Uwe Koch, Thomas Auerbach) und Dresden (Frieder Burkhardt, Christoph Wonneberger) praktiziert, wurde ab 1970 als „Offene Arbeit“ bezeichnet. Ab 1971 fanden überregionale Arbeitstreffen statt, an denen sich nicht nur Kirchenangestellte, sondern auch Jugendliche beteiligten, die Verantwortung übernehmen wollten. Ziel war ein neues Gemeindemodell. Über Tramperkreise erfolgte eine Vernetzung quer durch die Republik. Junge Gemeinden in Großstädten wie Erfurt, Halle und Ost-Berlin erhielten ein neues Profil, wurden zu Umschlagplätzen subversiver Ideen. Gemeinsames ganzheitliches Leben, vorurteilsfreies einander Annehmen und hierarchiefreies Miteinander wurden zum hehren Selbstverständnis. Spaß und Spontaneität sollten dabei nicht zu kurz kommen.

Aus einem von Schilling geprägten Theologieverständnis der Nachfolge Jesu entwickelte sich in einem Prozess des Miteinanders eine Befähigung zum gemeinsamen politischen Handeln. 1973 hatte Schilling einen Armeedeserteur auf dem kirchlichen Gelände versteckt, obwohl das Militärlager der Nationalen Volksarmee (NVA) Dittrichshütte nur ein paar Steinwürfe entfernt lag. Immer wieder stand er Armeedienstverweigerern bei. Ab 1973 setzte als Nachwirkung des Prager Frühlings eine stärkere Politisierung ein, die 1976 mit den Protesten gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann in der Jungen Gemeinde Jena einen ersten Höhepunkt fand, an denen sich Schilling beteiligte.

Gerold Hildebrand
Letzte Aktualisierung: 08/16