„Mutter der Revolution“ wurde Bärbel Bohley im Verlauf des Herbstes 1989 von westdeutschen Journalisten getauft. So übertrieben sie ist, markiert diese Bezeichnung doch die besondere Rolle der Malerin für den gesellschaftlichen Aufbruch in der DDR und ihre Bedeutung für die oppositionelle Entwicklung bis dahin. Deutlich wird zudem die Popularität Bärbel Bohleys in jener Zeit, die ihrer ausgeprägten Fähigkeit zu verdanken war, den Gefühlen und Bedürfnissen sehr vieler Menschen Ausdruck zu verleihen. Sie verkörperte für einen kurzen Zeitraum geradezu die Stimme des Volkes.

Geboren wurde Bärbel Bohley am 24. Mai 1945 in Berlin, wo sie mit Ausnahme eines halben Jahres während ihres Zwangsexils 1988 im Westen auch bis zum Ende der DDR lebte. Ihr Vater war Techniker, die Mutter Hausfrau, Politik spielte in der Familie keine nennenswerte Rolle. Bohley machte 1963 Abitur und verdiente sich in den kommenden Jahren mit verschiedenen Aushilfstätigkeiten ihren Lebensunterhalt, bis sie schließlich 1969 zum Studium der Malerei an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee angenommen wurde. Aus der Ehe mit einem aus Halle stammenden Künstler stammte ein Sohn, der nach der Scheidung wenige Jahre später bei ihr lebte.

Nach Abschluss des Studiums 1974 arbeitete Bärbel Bohley mit einigem Erfolg als freischaffende Malerin und Grafikerin. Sie beteiligte sich an internationalen Ausstellungen und erhielt zweimal einen Förderpreis des staatlichen Kunsthandels. 1976 wurde sie zum Vorstandsmitglied des Berliner Bezirksverbandes der Bildenden Künstler (VBK) gewählt.

Das politische Engagement entwickelte sich für Bohley aus Kontakten mit bildenden Künstlern und Schriftstellern in der weitgefächerten Berliner Künstlerszene. Auch die große Familie ihres Ehemannes, in der es außer Künstlern auch Theologen und viele Kontakte in die entsprechenden Milieus in Halle gab, spielte hierbei eine Rolle. Nicht zufällig gab es in der DDR außer ihr mehrere weitere engagierte Oppositionelle gleichen Namens.

Äußerer Anstoß zu ihrer ersten widerständigen Aktivität war das zunehmende Klima von Militarisierung der DDR-Gesellschaft in Schulen, Betrieben und sogar Kindergärten. Auf diese Entwicklung traf der NATO-Doppelbeschluss 1979, der eine neue Runde im internationalen Wettrüsten einleitete. Gegen die atomare Hochrüstung hatten Frauengruppen schon seit Jahren in verschiedenen westlichen Staaten protestiert. Anfang 1980 wurde auch in der Bundesrepublik eine Unterschriftenaktion gestartet. Zu den Unterzeichnerinnen des Appells „Anstiftung für den Frieden“ gehörte in der DDR Bohley. Damit wurde erstmals in Ost und West ein gemeinsamer Protest formuliert, der den Beginn der blockübergreifenden Friedensbewegung markierte.

In dieser Zeit kam sie in Kontakt mit Robert Havemann und seinem Umfeld. Als im März 1982 ein neues Wehrdienstgesetz auch die Rekrutierung von Frauen im „Verteidigungsfall“ bestimmte, begannen Bohley und andere Frauen Eingaben an die DDR-Führung zu schreiben, in denen sie ihren zivilen Ungehorsam für diesen Fall ankündigten und eine öffentliche Diskussion forderten. Im Oktober 1982 gelang eine DDR-weite Unterschriftensammlung, die unter anderem von Bohley und Katja Havemann initiiert worden war. In diesem Zusammenhang bildete sich die Gruppe „Frauen für den Frieden“, die in der Folgezeit mit vielfaltigen Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Kirche zu einem der wichtigsten Kristallisationspunkte der unabhängigen Friedensbewegung wurde und bis zum Ende der DDR bestehen blieb. Von wesentlicher Bedeutung für ihren blockübergreifenden und -überwindenden Ansatz war der Kontakt zu westdeutschen Aktivistinnen, darunter der Mitgründerin der Grünen Petra Kelly und deren politischem Umfeld.

Als Ende 1983 die „Nachrüstung“ irreversibel wurde und die DDR-Führung das Interesse an der westlichen Protestbewegung verlor, setzten sofort schärfere Repressalien gegen deren Verbündete in der DDR ein. Bohley, die zuvor bereits als Vorstandsmitglied des Verbandes der Bildenden Künstler Berlin abgesetzt worden war und nicht mehr an Ausstellungen teilnehmen durfte, wurde zusammen mit Ulrike Poppe verhaftet. Ihre mittlerweile erreichte Bekanntheit und Proteste aus dem Westen erzwangen jedoch ihre Entlassung im Januar 1984.

Nach der Hochphase der unabhängigen Friedensbewegung fächerte sich der Widerstand gegen die Politik der DDR-Führung thematisch auf. Dieser Prozess wurde von Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen ideologischen Strömungen begleitet. Es gelang aber erstmals, eine gewisse personelle und organisatorische Kontinuität zu erreichen, die sich bis zum Ende der DDR hielt.

Bärbel Bohley gehörte Ende 1985 zu den Gründungsmitgliedern der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) als Ergebnis der Spaltung traditionell linker und postmarxistischer Anschauungen in den unabhängigen Gruppen. Die IFM verstand sich als Gruppe von Aktivisten, die politische und bürgerliche Rechte durchsetzen und den Keim einer zivilen Gesellschaft legen wollte. Sie agierte bewusst außerhalb der Kirche, was bis zum Ende der DDR äußerst selten und mit zusätzlichen praktischen Schwierigkeiten verbunden blieb. Ihr gehörten dennoch auch praktizierende Christen an; die Beziehungen zur Kirche und zu vielen Pfarrern und Gemeinden blieben eng.

Im Rahmen der IFM beteiligte sich Bohley an vielen Aktivitäten wie Eingaben, Offene Briefe, Veranstaltungen in Kirchgemeinden und Samisdat-Publikationen sowie Versuchen der landesweiten Vernetzung der sich entwickelnden Oppositionsbewegung und engen Kontakten zu politischen Freunden in Westeuropa, allen voran Petra Kelly. Eine der wichtigsten frühen Aktionen der IFM war eine DDR-weit unterzeichnete Eingabe an den SED-Parteitag 1986, in der die Führungslegitimation der Partei in Zweifel gezogen und ein offener gesellschaftlicher Dialog über die Demokratisierung des Landes gefordert wurde.

Bohley war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch aus Sicht der Staatssicherheit zu einer der bekanntesten, profiliertesten und engagiertesten Oppositionellen in der DDR geworden. Darum versuchte der Staat im Januar 1988 ein weiteres Mal, sie loszuwerden und ihre Umgebung einzuschüchtern, indem er sie zusammen mit einer Reihe anderer aktiver Oppositioneller verhaftete. Das Ergebnis waren eine bis dahin in der DDR ungekannte Solidarisierungswelle sowie internationale Proteste in Ost und West. Daraufhin wurden die Verhafteten – mit einer Ausnahme ohne Prozess – nach Vermittlung durch die Kirche zwangsweise ins Exil in den Westen abgeschoben. Bohley erhielt im Februar 1988 zusammen mit Werner Fischer ein Aufenthaltsverbot für die DDR von sechs Monaten. Dieses Verfahren hatte keinerlei juristische Grundlage und keine historische Präzedenz. Es erzeugte erhebliche Irritationen in der DDR, blieben doch die Vorgänge und Motive sowohl der Behörden als auch der Verhafteten, die zu dieser Entscheidung geführt hatten, ebenso unklar wie die Perspektive nach Ablauf der Zeit im Exil. Es gelang Bohley jedoch mit Hilfe verschiedener Seiten, im August 1988 wieder in die DDR einzureisen.

Bohleys Engagement blieb auch nach der Rückkehr in die DDR unverändert. Die sich zuspitzende politische Situation, aber auch die Entwicklung der oppositionellen Aktivitäten führten zu neuerlichen Diskussionen unter den Gruppen. Erstmals bekannten sich Initiativen und Personen offen zu ihrem Selbstverständnis als Oppositionelle. Bohley gehörte zu ihnen, suchte aber darüber hinaus eine Organisationsform, die aus dem engen Zirkel der Opposition hinausführen sollte. Die gesellschaftliche Isolation zu überwinden, in der diese Gruppen in einem Land ohne Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft verharrten, war ihr immer dringlicher werdender Anspruch.

Während bereits ab 1988 verschiedene Öffnungsmöglichkeiten bis hin zu (illegalen) Parteigründungen diskutiert wurden, ging es Bohley um eine möglichst breite Resonanz und Beteiligung in der Bevölkerung. Sie wollte eine Bewegung, die die Bedürfnisse möglichst vieler Menschen ansprach und artikulierte. Im Ergebnis ergriff sie zusammen mit Katja Havemann und Rolf Henrich im Frühjahr 1989 die Initiative für das Neue Forum: Sie veröffentlichten im September 1989 den Appell „Aufbruch ‘89“ und riefen zur Unterzeichnung auf. Der Erfolg war überwältigend: Binnen weniger Wochen gab es DDR-weit Zehntausende Unterschriften und noch mehr Sympathiebekundungen. Die Initiatoren wurden von Briefen, Anrufen und Besuchen geradezu überflutet. Das Neue Forum, das sich landesweit als Vereinigung registrieren lassen wollte, hatte bewusst kein politisches Programm, sondern war eine Aufforderung zur Selbstaktivierung der Menschen, zur Demokratisierung „von unten“. Der Grund für den Erfolg des Neuen Forums, das in eine Massenbewegung mündete, war die breitestmögliche Artikulation von Unzufriedenheit exakt zu dem Zeitpunkt, als sie unaufhaltsam geworden war.

Bohley vertrat – charakteristisch für viele DDR-Oppositionelle – ein ethisch und nicht ideologisch motiviertes politisches Engagement, das sich an Haltungen und nicht an Programmen orientierte, an den Bedürfnissen von Menschen und nicht an Parteien und deren Interessen. Ihr Misstrauen gegenüber Hierarchien und Berufspolitikern hat sie schon bald nach dem Herbst 1989 und erst recht nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten von der Politik entfremdet. Nach einer kurzen Tätigkeit als Abgeordnete der Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung von Mai bis Dezember 1990 zog sie sich zunehmend zurück. Von 1996–98 betrieb sie in Bosnien ein Wiederaufbauprogramm mit zurückgekehrten Kriegsflüchtlingen und baute anschließend in Kroatien ein Kinderferienlager für bosnische Waisen auf.

2008 kehrte Bärbel Bohley nach Berlin zurück, um ihre Krebserkrankung behandeln zu lassen, der sie 2010 erlag.

Reinhard Weißhuhn
Letzte Aktualisierung: 08/16