Bulgarien

Schelju Schelew

Schelju Schelew, 1935–2015

Želju Mitev Želev

Желю Митев Желев

Philosoph und Politiker, führender Vertreter der demokratischen Opposition; 1990–97 Staatspräsident Bulgariens.

Schelju Schelew wurde 1935 in dem Dorf Wesselinowo im Bezirk Schumen in eine arme Bauernfamilie geboren. 1958 schloss er sein Philosophiestudium an der Universität Sofia ab 1960 wurde er Mitglied der Bulgarischen Kommunistischen Partei. 1961 begann er eine Aspirantur am Lehrstuhl für Philosophie der Universität Sofia. Schon früh äußerte er sich negativ zu den dogmatischen Beschränkungen des Marxismus-Leninismus, so in seiner Abhandlung „Filozofskoto opredelenie na materijata i săvremennoto estestvoznanie“ (Philosophische Bestimmung der Materie in der modernen Naturwissenschaft) und in einigen Aufsätzen, wie beispielsweise „Kritika za Leninovoto učenie za materijata“ (Kritik der leninschen Lehre von der Materie).

Seine „Philosophische Bestimmung der Materie in der modernen Naturwissenschaft“ vervielfältigte Schelju in 200 Exemplaren, die er unter intellektuellen Wissenschaftlern und Künstlern verteilte. 1965 wurde er als Antimarxist und Antimaterialist aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Bald darauf verlor er auch seine Arbeit an der Universität, man verwehrte ihm die Verteidigung seiner Doktorarbeit und er durfte sich in der Hauptstadt nicht mehr polizeilich anmelden.

Schelew siedelte in das Dorf Grozden im Bezirk Burgas über, woher seine Frau stammte. Dort verfasste er das Buch „Totalitarnata dăržava“ (Der totalitäre Staat), das er vergeblich versuchte, bei einem staatlichen Verlag unterzubringen. Es erschien dann im Samisdat, wo es von Hand zu Hand ging. Erster Leser und eifriger Weiterverbreiter war #Radoj Ralin. Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 behinderte die Herausgabe des Werkes in Prag.

1969 kehrte Schelew nach Sofia zurück und fand Arbeit in einem Laienkünstlerzentrum. Nach der erfolgreichen Verteidigung seiner Dissertationsschrift „Modalnite kategorii“ (Modale Kategorien) war 1974 auch sein Promotionsverfahren abgeschlossen. Ab 1975 war er Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Kulturforschungsinstituts. Auf einer wissenschaftlichen Tagung 1980 in Weliko Tarnowo kritisierte er den Zustand der Geisteswissenschaften in der UdSSR, was zu einer scharfen polemischen Auseinandersetzung mit den sowjetischen Gästen führte.

Sein Buch „Der totalitäre Staat“ erschien letztendlich 1982 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren unter dem Titel „Fašismăt“ (Faschismus). Ein Drittel der Auflage wurde jedoch schnell wieder aus den Buchhandlungen abgezogen. Das Buch zog Parallelen zwischen dem nationalsozialistischen und kommunistischen System und erregte damit den Argwohn des Sicherheitsapparates und der leitenden Parteifunktionäre. Drei Redakteuren des Verlags Narodna mladež, die unmittelbar mit der Herausgabe des Buches befasst gewesen waren, verloren ihre Arbeit. Parteistrafen erhielten der Redakteur Iwan Slawow sowie die Gutachter Professor Kiril Wassilew und Professor Nikolaj Gentschew. Die allgegenwärtige Hetze gegen Schelews Buch machte dieses jedoch zu einer Legende.

In den 80er Jahren setzte Schelew seine Forschungen zum Wesen des kommunistischen Systems fort. Er entwickelte ein von der Militärdiktatur zur liberalen Mehrparteiendemokratie reichendes Schema für den Zerfall totalitärer Systeme, in dem er die sowjetische Perestroika als mögliche Alternative zur Militärdiktatur bewertete. Schelew sah die Zunahme von Chancen für eine Demokratisierung des kommunistischen Systems.

Im Zusammenhang mit den öffentlichen Aktivitäten Schelews leitete der Staatssicherheitsdienst bereits im Oktober 1983 einen operativen Vorgang gegen ihn ein. Dieser sollte verhindern, dass Schelew weiter sogenannte ideologische Diversion verbreitete. Sämtliche unbotmäßigen Äußerungen Schelews wurden registriert, darunter diese: „Es gibt zwei Arten von Sozialismus: den wissenschaftlichen und den real existierenden. Der wissenschaftliche ist nicht real existierend, und der real existierende ist unwissenschaftlich. Der Sozialismus in Bulgarien hat somit zwei Etappen: die Wachstumsfehler und das Fehlerwachstum.“

Ende der 80er Jahre rekrutierte Schelew Mitglieder für das Öffentliche Komitee für den Schutz der Umwelt von Russe, das am 8. März 1988 ins Leben gerufen worden war. Er war einer der Gründungsväter und der erste Vorsitzende des Klubs für Glasnost und Perestroika, in dem auch kommunistische Parteirevisionisten ihren Platz hatten. Während der ersten Hauptversammlung am 2. November 1989 propagierte er die Idee der Zusammenführung verschiedener informeller Strukturen im Rahmen einer gemeinsamen Front. Am 7. Dezember 1989 war es dann so weit: Die Union Demokratischer Kräfte wurde gegründet und Schelew wurde ihr erster Vorsitzender.

Am 19. Januar 1989 war Schelew einer von zwölf bulgarischen Dissidenten, die an einem Frühstück teilnahmen, zu dem der französische Staatspräsident François Mitterand während seines Staatsbesuchs in Bulgarien eingeladen hatte. Schelew beteiligte sich an allen Kundgebungen und Demonstrationen im November und Dezember 1989, die den Systemwechsel herbeiführten. In der aufgeheizten Stimmung auf der Kundgebung am 14. Dezember 1989 (es ging um die Streichung von Verfassungsartikel 1, der die führende Rolle der kommunistischen Partei festlegte) beruhigte Schelew die Gemüter. Seiner Umsicht ist es zu verdanken, dass die bulgarische Revolution einen sanften Verlauf nahm.

Schelew und der Klub für Glasnost und Perestroika erregten auch das Interesse westlicher Rundfunkstationen und bulgarischer Exilorganisationen. In zahlreichen Interviews für Radio Freies Europa, die Deutsche Welle, BBC und Voice of America beschrieb Schelew den Zerfall des Sozialismus als Regierungssystem. Nach der demokratischen Wende im November/Dezember 1989 wurde er Vorsitzender des Koordinationsrates der Union Demokratischer Kräfte und war der führende Oppositionsvertreter bei den Gesprächen am Runden Tisch, der vom 3. Januar bis zum 5. Mai 1990 tagte.

Am 1. August 1990 wählte ihn die Große Nationalversammlung zum Staatspräsidenten. 1992 wurde er in der ersten Direktwahl des Staatsoberhauptes in seinem Amt bestätigt. Er blieb bis 1997 Staatspräsident Bulgariens, betätigte sich anschließend nicht mehr auf der großen politischen Bühne und leitete eine nach ihm benannte Stiftung. Für seine Verdienste wurde er 2005 mit der höchsten staatlichen Auszeichnung Bulgariens geehrt.

Schelju Schelew starb 2015 in Sofia.

Silwija Radewa
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 06/17